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Johannes und die Biene

Geschichte für Johanni von Georg Dreißig

Im Lande Israel lebte ein Mann, denn sie Johannes den Täufer nannten, denn er rief die Menschen auf, sich von ihm Wasser des Jordanflusses taufen zu lassen. Wen er aber ins Wasser eintauchte, der sah den Himmel aufgetan und den Sohn Gottes zur Erde herniedersteigen.

Die Menschen kamen in großen Scharen zu ihm, um sich von ihm erzählen zu lassen und die Taufe zu empfangen. So sehr bedrängten sie ihn, dass er kaum Zeit zum Essen und Trinken fand.

Eines Tages stand Johannes wieder am Ufer des Jordan. Ein Bienlein hatte sich unweit von ihm auf einen Stein niedergelassen, um zu trinken. Da war eine Welle gekommen und hatte die Biene ins Wasser gezogen. Johannes sah das kleine Tier um sein Leben kämpfen, eilte hinzu, streckte die Hand aus und hob die Biene aus dem Wasser.

Nun müsst ihr wissen, dass die wilden Bienen zu jener Zeit noch viel ängstlicher waren, als sie heute sind. Denn so sehr sie sich auch abmühen mochten, sie konnten doch an Honig gerade so viel zusammenbringen, wie sie selbst zum Leben brauchten. Und so verteidigten sie sich mit ihrem Stachel gegen jeden möglichen Räuber.

Als Johannes die Biene rettete, stach sie ihm darum kräftig in die Hand. Der Täufer aber ergriff das pelzige Tierchen vorsichtig mit den Fingerspitzen, löste es aus seinem Handteller so sorgsam, dass sein Stachel keinen Schaden litt, und setzte es dann auf ein Blatt, damit die Sonne es trockne. Dann wandte sich Johannes wieder predigend und taufend den Menschen zu und dachte nicht mehr an das Bienlein. Erschöpft von den Mühen des Tages saß er abends auf einem Stein. Da erst fiel ihm ein, dass er den ganzen Tag lang keine Speise zu sich genommen hatte, und er griff in seine Tasche, um einen Kanten Brot herauszuholen. Doch er fand die Tasche leer. So würde ihm nichts anderes zu tun übrigbleiben, als das, was er schon an manch anderem Tag getan hatte: hungrig schlafen zu gehen.

Während er noch so dasaß, bemerkte er auf einmal eine Biene, die um ihn herumflog. Was mochte das kleine Tier an diesem Ort hier am Abend noch verloren haben? Ei, die Biene hatte Johannes gesucht, und nun, da sie ihn gefunden hatte, zögerte sie nicht mehr lange, sondern setzte sich flink auf seine Lippen, um sogleich wieder davonzufliegen. Es hatte aber auf den Lippen ein kleines Tröpfchen Honig zurückgelassen. Und denkt euch: der Honig, so wenig es auch war, sättigte den Täufer, als hätte ihm jemand ein ganzes Mahl bereitet.

Täglich kam fortan das Bienchen zu Johannes geflogen und brachte ihm ein Tröpfchen Honig. Johannes aber segnete das Bienlein und sagte: »Weil du das Wenige, das du unter Mühe gesammelt hast, mit mir teilst, will ich Gott, den Herrn, bitten, dir und deinesgleichen Honig im Überfluss zu schenken.« Die Bitte des Täufers hat sich erfüllt. Bis auf den heutigen Tag können nun die Bienen Honig im Überfluss sammeln, so viel, dass sie auch uns davon abgeben können.

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Sinneswandeln in Lebensbildern

Von Ulrich Meier aus der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“ 2006

Die Johannestaufe und das Sakrament der Beichte

Man geht in den Bildern seines Lebens spazieren. Ist von ihnen umgeben und ist zugleich identisch mit ihnen. Sieht und erlebt alles noch einmal, aber anders. Ein überraschend neuer Blick auf Gewordenes, mit der Frage nämlich, ob diese Bilder das waren, was man hätte leben sollen. Und lieben, ja, natürlich.

So stelle ich mir das große Bilderangucken nach meinem Tod vor, seit ich die Berichte von den Nahtoderfahrungen des George Ritchie und Anderer gelesen habe. Und erblicke darin etwas von der Johannestaufe – und vom Beichtsakrament, das uns in der Christengemeinschaft anvertraut ist: Man taucht in den Strom der Erinnerungen unter, lässt sich ganz von den fließenden Bildern überfluten, öffnet sich für andere Perspektiven auf das Gelebte, und steigt schließlich mit einem neuen Blick wieder heraus, mit der Ahnung dessen, was in Zukunft anzustreben wäre. Sinneswandlung: sich und dem eigenen Leben einen neuen Sinn geben, eine andere Richtung, vom neuen Anblick des Menschen her wie ein Leuchtfeuer klar bestimmt.

Im Beichtgespräch ist da als Zeuge noch ein Anderer anwesend, der die Aufgabe des Täufers Johannes übernehmen soll, der Priester. Er soll Vorgänger, Wegbereiter dessen werden, der als der Schaffende menschliches Wandeln mit seinem Wandeln durchdringen kann. Zu dem Blick auf meine Lebensbilder kommt so der nächste Schritt hinzu. Ich schaffe sie noch einmal, indem ich sie mit Worten hörbar mache. Und erfahre dabei, wie Hören und Sprechen neue Einsichten, neue Kompositionen, neue Beziehungen meiner selbst zu den Erinnerungen ermöglichen. Denn ich trage ja nicht nur mein Leben als Bilderwerk mit mir, sondern auch die Art, wie ich jedes einzelne Bild gewollt oder nicht gewollt habe, wie ich es empfunden habe und darüber urteilte. Damit in eine weitere Klärung schon jetzt zu kommen und nicht erst mit dem Lebenspanorama nach dem Tod, ist die Chance. Immer weniger verurteilen müssen, immer weniger Angst und Abwehr haben, immer mehr Bejahung.

Ist für dieses Mal der letzte Pinselstrich an den Erinnerungsbilderworten ausgesprochen, folgt der Augenblick des Übergangs, des Auftauchens aus dem Bilderstrom des Vergangenen. Eine Pause, in der nicht mehr gesprochen werden muss. »Auch ich verurteile dich nicht.« Dieses Wort des Nichtsprechens Christi zu der Ehebrecherin kann für all unser Tun und Unterlassen gelten, das wir nicht nur mit unserem Leben, sondern noch einmal im nachschaffenden Erinnern in die Erde eingeschrieben haben.

Die abschließenden Worte des Sakramentes sind nicht mehr individuell, sie weisen in jedem Leben und in jedem Lebensaugenblick auf das eine Bild des Menschen, das ihn zum Ebenbild Gottes aufsteigen lässt. Wo wir lernen, Gottes- und Menschenwirken ineinander zu fügen, wo wir mit der göttlichen Kraft des Friedens beschenkt werden, da öffnen wir uns dem Atem der Liebe, die in uns einzieht, indem wir sie in der Hingabe an Gott und die Menschen auszuströmen beginnen.

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Johanni-Psalm „Am Jordan“

von Anna Hofer 2010

     Schau, wie sie alle daherkommen –
Bewegte Schatten schieben sich über den Boden.
Sie wollen alle in Dein Licht.
Doch bin ich nicht sicher, ob sie hören,
was Du sagst.
Sie schieben die Einöde weg und fluten
meine Strände.
Sie steigen ein und tauchen unter in meine Wellen.
Du hast mich nicht gefragt, ob ich sie denn will.
Sie, die sie voll sind mit nichts als Gedanken.
     Schau, wie sie alle kommen –
Du empfängst sie mit Worten und Gebärden.
Sie entlassen sich in Dich und ich muss sie tragen.
Meine Natur nimmt sie auf, nimmt alles auf
was sie bringen,
ich werde schwer und voll –
Du hast mich nicht gefragt, wie es sich anfühlt
an meinen Rändern,
in meinem Leib.
Ich verdaue, ich bewege, ich wirble und mische –
und Du holst und führst
die Menschen der Lande weiter in mich hinein.
Hättest Du nicht die Macht
auch den Geist zu holen und dahin zu führen,
ich könnte Dir nicht helfen.
     Schau, wie sie alle daherkommen –
Einsteigen, eintauchen, loslassen
und wiederkommen. Ganz neu.
Neu gemischt mit allem was ich aufnehmen kann.
Mit allem was sie bringen
und allem was kommt.
Von oben und unten.
Getrennt –
Und ich füge zusammen was Du mir gibst.
Du hast mich nicht gefragt, ob ich das will.
Aber hier meine Antwort: ich will.
Rufe Du sie herbei und ich mische sie neu.

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Evangelium zu Johanni

Markus 1, 1 – 11 in der Übersetzung von Tom Tritschel

„Taufe und Täufer“

Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn.

Es begann, wie es geschrieben steht bei dem Propheten Jesaja: Ich sende meinen Engel vor dir her; er soll dir den Weg bereiten.

Eine Stimme ruft in der Einsamkeit: Bereitet den Weg des Herrn! Machet eben seine Pfade!

So trat hervor Johannes der Täufer in der Wüste und verkündete die Umkehr und die Taufe zur Vergebung der Sünden.

Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich von ihm taufen im Wasser des Jordan.

Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften und seine Nahrung waren Heuschrecken und wilder Honig.

Er verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; dem gegenüber bin ich nicht würdig, mich niederzubeugen vor ihm, und ihm die Riemen an den Schuhen zu lösen.

Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch taufen mit Feuer und Heiligem Geiste.

In jenen Tagen kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und ließ sich taufen von Johannes im Jordan.

Und als er aus dem Wasser wieder aufstieg, schaute er wie der Himmel sich öffnete und der Geist in Gestalt einer Taube herabkam auf ihn. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, heute habe ich dich geoffenbart.

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Der königliche Bruder

Geschichte für Pfingsten von Georg Dreißig

Ein Junge war bei Köhlersleuten aufgewachsen, die ihn geliebt und gepflegt hatten wie ihr eigen Kind. Doch als er 14 Jahre alt geworden war, sprach der Köhler zu ihm: »Deine Zeit ist nun gekommen, dass du dich auf den Weg in deine Heimat machst. Denn wisse, du stammst aus königlichem Geblüt, und nun sollst du zum Schloss deiner Eltern zurückkehren. Deine Eltern sind gestorben, deshalb haben wir dich an Kindes Statt großgezogen. Auf dem Schloss aber wartet dein älterer Bruder auf dich. Wir sollen dir sagen: Ziehe immer gen Sonnenaufgang, und wenn dich der Mut nicht verlässt, wirst du den Weg finden.« Da bedankte sich der Jüngling und machte sich auf den Weg immer der Sonne entgegen. Zunächst konnte er einer gebahnten Straße folgen, und manch ein Fuhrmann nahm ihn auf seinem Wagen

eine Strecke weit mit. Doch dann wurde der Wegenger, führte durch Wiesen und Moore, und der Junge musste gut Acht geben, wohin er trat. Endlich gelangte er an einen Fluss, der war so breit, dass er kaum das andere Ufer erkennen konnte. Er wanderte flussaufwärts und flussabwärts, konnte aber keinen Fährmann finden. Da entschloss er sich, schwimmend den Fluss zu überqueren. Er schwamm, bis seine Kräfte erlahmten, und immer noch hatte er das andere Ufer nicht erreicht. Da bekam er es mit der Angst zu tun. Wie, sollte er hier untergehen und elend ertrinken? Er mühte und mühte sich, endlich aber war er so schwach, dass er sich der Strömung des Wassers nicht mehr widersetzen konnte. Da spürte er plötzlich, wie ihn jemand mit starkem Arm fest packte und mit sich zog, bis er ihn am anderen Ufer niederlegte. Als er aufblickte, sah er das leuchtende Antlitz eines jungen Mannes, der sich über ihn beugte. Dann schlief er ein.

Er musste lange geschlafen haben, denn als er wieder erwachte, waren seine Kleider bereits getrocknet. Er fühlte neue Kraft in seinen Gliedern und machte sich frohgemut wieder auf die Fahrt. Der Weg führte ihn nun steiler und steiler ins Gebirge hinauf. Immer wieder musste er Geröll fortschaffen, das ihm den Weg versperrte, doch scheute er keine Mühe. Sein Pfad aber endetet auf einmal vor einem Abgrund, in dessen Tiefen er einen wilden Bach tosen hörte. Über den Abgrund führte eine Brücke, die war kaum breiter als die Klinge eines Schwertes. Die andere Seite aber konnte der Jüngling nicht erkennen, so breit war jener Abgrund. Angesichts der schmalen Brücke wollte den Jüngling der Mut verlassen. Doch er erinnerte sich der Worte des Köhlers: »Wenn dich der Mut nicht verlässt, wirst du den Weg finden.« Da fasste er sich ein Herz und trat auf die schmale Brücke. Fuß vor Fuß ging er voran, schaute nicht nach unten in die tosenden Tiefen, sondern hielt den Blick fest auf die andere Seite gerichtet. Er war aber erst in der Mitte der schmalen Brücke angelangt, als ihn seine Kraft verließ und Schwindel ihn packte. Da spürte er, wie er wankte, wie er drohte, in die Tiefe zu stürzen. Zugleich aber spürte er, wie jemand ihn mit festem Griff hielt, jemand, der hinter ihm ging, ohne dass er ihn bemerkt hätte. So gehalten erreichte er die andere Seite des Abgrundes.

Dort wandte er sich um, den zu sehen, der ihm geholfen hatte, und wieder schaute er in das leuchtende Antlitz des Jünglings, der ihn auch über den Fluss getragen hatte. Kaum aber, dass er ihn gesehen hatte, entschwand er seinem Blick. Nachdem er sich ausgeruht hatte, machte sich der Jüngling wieder auf die Fahrt, höher und höher hinauf in die Berge, und eines Morgens stand er endlich vor dem Schloss, zu dem er aufgebrochen war. Aus rotem Gold schien es errichtet zu sein, und so gleißend war sein Licht, dass er seinen Blick abwenden musste; denn das Schloss, das er gefunden hatte, war die Sonne selbst, die sich eben über die Berge erhob. Vor dem Schloss aber stand der Jüngling mit dem leuchtenden Antlitz, der ihm dreimal auf seinem Weg geholfen hatte und grüßte ihn. »Ich bin dein älterer Bruder, der in diesem Schloss wohnt«, sagte er. »Noch kannst du es nicht betreten, denn du könntest der Macht des Feuers noch nicht wieder standhalten. Aber du erinnerst dich jetzt daran, dass hier deine Heimat ist und du einst von hier ausgezogen bist. Eines Tages wirst du hierher zurückkehren und immer bei mir sein. Jetzt aber gib dich zufrieden mit diesem Goldreif, den ich dir aufs Haupt setze. Nur diejenigen werden ihn erkennen, die ebenfalls einen solchen Reif tragen. Er zeichnet dich als Königssohn vom Sonnenschloss aus. Ziehe nun aufs Neue aus zurück ins Tal! Wann immer du mich brauchst, wirst du mich an deiner Seite finden.« Da dankte der Jüngling und kehrte auf die Erde zurück – als ein heimlicher Königssohn, dessen wahre Heimat das Sonnenschloss ist. Das merkten die Menschen, auch diejenigen, die seinen goldenen Reif nicht sehen konnten, denn Licht und Wärme verbreiteten sich, wo immer er unter ihnen weilte, als wäre der Himmel selbst bei ihnen eingekehrt.

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Der Herzmusik des Universums lauschen

von Georg Dreißig

UND KLOPFTE mit dem Hammer seines Herzens
und riss des Todes Efeu fort von Bibelgräbern
und sah das Feuer- Wasser- Luft- und Sandgesicht entblößt
und sah das leere Meer von Stern zu Stern:
Die Einsamkeit; und sah in aller Augen Heimatwehe,
und alle Flügel hatten Heimat nur als Ort
und Abschied war ein Blatt vom Wort,
das fiel, und Seinen Namen hinterließ,
der wie ein Falke aus dem Sterben stieß –

(Nelly Sachs, »Und niemand weiß weiter«,1957)

Manchmal hört man in der eigenen Sprache sprechen – und versteht dennoch das Gesagte nicht; der Sinn bleibt einem verborgen. Die Gedichte der Nelly Sachs sind ein Phänomen dafür. Wir verstehen die einzelnen Wörter, verstehen einzelne Fetzen der Aussage, verstehen, dass in unserer Sprache verkündet wird, letztlich aber verstehen wir nicht. Das lässt uns – manchmal sehr rasch – am Sinn solcher Gedichte überhaupt zweifeln. Denn Hören und Verstehen gehen im Alltäglichen Hand in Hand; wir bemerken kaum, dass das Hören etwas ganz anderes ist als das Verstehen, das Begreifen. Gedichte wie die der Nelly Sachs machen uns für den Unterschied zwischen beiden hellwach: Ich höre – in meiner eigenen Sprache – und verstehe zunächst nicht. Es hilft uns in diesem Fall auch wenig, nach dem Hintergrund ihrer Herkunft zu fragen: Ist sie nicht Jüdin – oder Deutsche – oder Schwedin? Ihre Herkunft spricht aus ihren Worten nicht und kann uns das Gesagte nicht erklären. Sie sagt selbst davon in einem Brief vom 1. Oktober 1946: »… es ist auch gänzlich gleichgültig, ob ich sie schrieb oder irgendjemandes Stimme erklang. Aber es muss doch eine Stimme erklingen …« Und als die Menschen auf sie aufmerksamer wurden und mehr über sie erfahren wollten, schrieb sie: »… ich aber will, dass man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen …« (25. 6. 1959). Lauschen – in einem viel tieferen Sinn als gewöhnlich – hatte das Schicksal von Nelly Sachs gefordert. Gewöhnlich können wir uns weitgehend darauf konzentrieren zu hören, was um uns herum vorgeht. Nelly Sachs musste erlauschen lernen, wer sie selbst in ihrem Zeitalter eigentlich war, denn alles Ererbte wurde ihr genommen, und die eigene Existenz musste sie ganz neu finden und begründen. Nur im Sinn der nationalsozialistischen Gesetzgebung war Nelly Sachs Jüdin; ihrem eigenen Interesse und Lebensstil nach war sie Verehrerin der christlichen Mystiker und liebte Dichter wie Novalis und Hölderlin. Von Hause aus war sie wirtschaftlich so gut abgesichert, dass sie sich um ihren Lebensunterhalt nicht zu sorgen brauchte und bis zu ihrem 49. Lebensjahr, als das Schicksal des Jahrhunderts plötzlich ganz anderes forderte, nie einem Broterwerb nachgegangen ist. Auch in diesen Jahren hat die Berliner Fabrikantentochter gedichtet, romantische Reime, die bis heute weitgehend unbekannt geblieben sind. Hätte sie nicht Freunde gehabt, die die Gefahr, in der sie sich zusammen mit ihrer Mutter befand, klarer sehen und den Umständen entsprechend angemessener zu handeln verstanden, wäre sie den Verfolgungen und den Lagern nicht entgangen. Sie hatte diese Freunde, die die Unterstützung der alten Selma Lagerlöf finden konnten, und so konnte sie 1940 als »jüdische Emigrantin« nach Schweden entkommen. Hier findet sie sich in vielerlei Weise in der Fremde. Sie lebt im fremden Land, dessen Sprache ihr erst allmählich vertraut zu und zur Verfügung stehen wird, und sie ist fremd in dem Kulturumkreis der jüdischen Gemeinde, der das Schicksal sie zugesellt hat. Herausgerissen aus dem Vertrauten, aus den Grenzen der eigenen Haut, lernt sie, das Eigene weniger wichtig zu nehmen, das sie Umgebende als ihre Aufgabe zu akzeptieren. Nelly Sachs wird »nur eine Stimme«, die das, was sie erlauscht hat, in entsprechende Worte zu kleiden versucht. Sie gibt ihre Identität preis, und nimmt eine neue, ihren persönlichen Voraussetzungen völlig fremde Identität als Repräsentantin des 20. Jahrhunderts auf. Und wenn wir gegen ihren Willen doch ein wenig in ihre persönlichen beengten, armseligen Verhältnisse in der kleinen Stockholmer Wohnung, aus der sie selten herauskam, blicken und auf die kleine, scheue, ja ängstliche Person, die sie nach außen hin war, so finden wir da nichts von der Kraft, von der Macht , die in ihren Worten lebt. Das Herausgebrochen-Werden, das Herausgebrannt-Werden aus der eigenen Biographie lässt Nelly Sachs zur Lauschenden werden. Und noch ein Element spielt dabei eine entscheidende Rolle: das Lauschen auf die vielen Toten, zu denen auch viele ihr Nahestehende gehören. Sie spricht von diesem Lauschen folgendermaßen: »… da ich nicht wagte, in dem einen Zimmer, das wir [die kranke Mutter und sie selbst] bewohnten, Licht anzuzünden, um die kostbare Nachtruhe meiner Mutter, die so selten war, zu stören, so versuchte ich im Kopf immer wieder zu wiederholen, was sich da abspielte in der Luft, wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war. Am Morgen schrieb ich dann das so behaltene, so gut ich konnte, nieder … Dann kam, wie Du ja weißt, ›Sternverdunkelung‹ immer nah der Grenze zwischen Leben und Tod … Zuletzt ›Und niemand weiß weiter‹, wo sich mein Leben weit hinausbeugt über die Grenze, die unsere Haut uns zieht« (23. 1. 1957). »… wo sich mein Leben weit hinausbeugt über die Grenze, die unsere Haut uns zieht«, wo das Erleben andere als die nur vom Irdischen Dasein umschlossenen einbezieht, dort hinein wird Nelly Sachs Lauschende. Die vom Schicksal aufgerissene Frage: Wer bin ich denn?, verwandelt sich mehr und mehr in jene andere Frage: Was kann durch mich denn sein, ja: Was will durch mich denn sein? Also lauschen in das hinein, was noch nicht ist, aber sein will, und ihm dienen, das wird das Schicksal dieser Dichterin. Worauf lauscht man eigentlich dort, »was sich da abspielte in der Luft, wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war«? Auf Worte? Auf Sprache? Welche Sprache wird denn dort gesprochen, welche Worte werden dort wohl benutzt? Und: Wie spricht man das dort Erlauschte in Worten aus, die dem Erlauschten noch entsprechen? So fragend kann uns deutlich werden: Jede Sprache ist Fremdsprache – fremd – nicht identisch – dem, was eigentlich gesagt werden will, weil es selbst nicht Wort, sondern eben Erfahrung ist. Ich kann »rot« sagen; was aber hat das mit der Erfahrung des Rot noch zu tun? Das ist abhängig davon, ob durch das Wort im Zuhörer diese Erfahrung wieder geweckt, aufgerufen werden kann. Das Wort ist eines, und das, was sich dadurch einstellt, ein Anderes. Jedes Wort ist Fremdsprache, verfremdet das, was gesagt sein will, zu Lauten und Begriffen. Jedes Wort kann deshalb auch nur Durchgang sein, Tor für das Eigentliche; manchmal ist es passierbar, manchmal nicht. Jedes Wort ist Fremdsprache, muss dem Eigentlichen auch fremd bleiben, kann mit ihm nicht identisch, nicht eins werden – und braucht es auch nicht. Denn das Mysterium ist, dass auch das Fremde, das Beschränkte hinleiten kann in das Reich des Unausgesprochenen, des Unaussprechlichen, des Eigentlichen – wenn es auf ein Lauschen trifft, das geduldig ist, das beharren kann, das fragen kann, das sich nicht gleich verschließt, wenn es auf zunächst Unverstandenes stößt, auf Fremdes. Die Sprache kann dennoch wirksam werden, weil an der Wirklichkeit, die sie aussprechen will und nur sehr begrenzt aussprechen kann, unausgesprochen jeder bereits Anteil hat. Sie wirkt in ihn hinein, er lebt in ihr. Die Sprache ruft es ihm ins Bewusstsein. Was einen tief berühren kann, ist nun die Tatsache, wie ganz anders jene Wirklichkeit ist, die da von der Dichterin erlauscht wird, die da in die Worte ihrer Gedichte hineindrängt, als jene ist, die sich dem gewöhnlichen Wahrnehmen bietet. Bereits in einem Brief aus dem Jahr 1949 schreibt Nelly Sachs: »… ich danke Ihnen für die Warnung, das Konkrete nicht zu vergessen. Nein, das werde ich niemals tun. Ganz im Gegenteil, ich fühle die Verantwortlichkeit, die jedes Wort mir auferlegt, so stark, dass ich oft etwas zu leicht Gefundenes fallen lasse und mir lieber, wenn auch noch ungeschickt, das Felsgestein an unbebauter Stelle lockere. Und in dieser Zeit der letzten Atemzüge, wo man von allen Seiten her direkt an die Grenzen gerissen wird, vielleicht nicht mehr wie in früheren Verzweiflungen sich in den Abgrund zu stürzen und auch nicht wie in der Romantik darüber hinwegzufliegen, wohl aber als Übung das hier in so schreckliche Perspektiven geratene von einer weiteren Aussicht überscheinen zu lassen. Der Glaube wächst, scheint mir, mit der Wissenschaft. Und wie dem Lied einer Amsel einst in stillen Frühlingstagen, so suchen wir nun der Herzmusik des Universums zu lauschen. Das Göttliche scheint mir herrlicher denn je, aber die Völker mögen bei dem Ausbruch über die Grenzen zu viel des eigenen Schutts über die neuen Gefilde geworfen haben …« (12. 4. 1949). Hier die Zeichen von Hass und Krieg, die lebendigen Erinnerungen an maßlose Greueltaten: Untergang; dort, »wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war«, Herzmusik des Universums«, wie das Lied einer Amsel in stillen Frühlingstagen: Aufgang neuer Gefilde. Darauf versucht Nelly Sachs nicht nur hinzuweisen, sondern so zu sprechen, dass etwas von dieser Realität die Seele des Hörenden erreichen und sich ihr mitteilen kann im bereitwilligen immer wieder Lauschen mit dem Herzen.

                                                                            …

»UND KLOPFTE mit dem Hammer seines Herzens«

– da wird die Tätigkeit des Herzens zu einer Kraft; da hat der Herzschlag Gewalt, wird hörbar, wird unüberhörbar. Er verändert das Seiende, fordert Öffnung, bricht auf –

»und riss des Todes Efeu fort von Bibelgräbern«

– ein Erstorbenes, Erstarrtes, ins Grab Gelegtes wird neu anschaubar, neu wahrnehmbar, indem das Tote, Verdeckende – das können auch die bekannten, zu schnell, zu gut verstandenen Begriffe sein, mit denen etwas Biblisches bezeichnet wird – weggerissen wird – im neu Übersetzen, Neubilden eines Begriffes – statt: Gott der Vater z. B. »ein allmächtiges geistigphysisches Gotteswesen –

»und sah das Feuer- Wasser- Luft- und Sandgesicht entblößt«

– auf einmal wird hinter dem Gewordenen, in einer vielleicht bereits jahrhundertelang bekannten und längst nicht mehr hinterfragten, hohl gewordenen Form, das Seiende, das Wesende erfahrbar: das, dessen Gesichtszüge den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde in der äußeren Welt zwar eingeschrieben sind, aber nicht mehr erkannt werden –

»und sah das leere Meer von Stern zu Stern: Die Einsamkeit«

– den Zwischenraum zwischen dem Erscheinenden, das, was wie Abstand erscheint, zugleich aber doch auch der Raum des Verbindenden ist, das unsichtbar Gemeinsame – die Einsamkeit, die als Alleinsein erfahren werden kann, aber auch als »All-eins-sein« –

»und sah in aller Augen Heimatwehe, und alle Flügel hatten Heimat nur als Ort«

– wo die Sehnsucht nach Heimat erwacht, regen sich, als wären sie ganz selbstverständlich Teil von uns, die Flügel, die uns erlauben, uns zu dieser Heimat wieder aufzuschwingen – als hätten wir nur vergessen, dass sie uns doch gegeben sind –

»und Abschied war ein Blatt vom Wort, das fiel, und Seinen Namen hinterließ«

– das Finden der Heimat weckt das Bewusstsein dafür, dass wir von dort Abschied genommen haben – und dieser Abschied trägt einen Namen, Seinen Namen, hat mit Ihm zu tun, ist mit Ihm verbunden,

»der wie ein Falke aus dem Sterben stieß –«

– das ist reinste Geistesgegenwarts-Erfahrung: dass etwas scheinbar Totes plötzlich und überraschend lebendig erscheint, wie ein Falke angriffslustig, kämpferisch, zielgewiss aus dem Sterben hervorstößt. Haben wir verstanden? Hoffentlich nicht! Nicht zum Verstehen soll hier ermuntert werden, sondern zum Lauschen, zum Einlassen auf die Wirklichkeit, auf die die Worte des Gedichtes hinweisen, zum Einlassen der Wirklichkeit in unsere Seele: unser Erfühlen, unser Ahnen, unser Wollen. Nicht um intellektuelles Verstehen geht es, sondern um das Anknüpfen an ein Leben, an ein Wirken, an ein Wesen jenseits der »Grenze, die unsere Haut uns zieht«. Es geht nicht um das Verstehen, was mit dem »Hammer seines Herzens« gemeint ist, sondern um den kraftvollen Schlag des Herzen selbst, sein Anklopfen, sein Aufklopfen, sein Eindringen in jenen Bereich, in welchem der göttliche Geist gegenwärtig schaffend tätig ist, um das Erahnen und Erfahren und Ergreifen seines Wirkens als der entscheidenden Wirklichkeit. Das Lauschen »über die Grenze, die unsere Haut uns zieht«, kann kein passives Aufnehmen eines sich selbstverständlich Darbietenden mehr sein, sondern ein aktives Erringen, ein tätiges Ergreifen – »Im Ergreifen des Geistes durch unsere Menschheit«, sagt die Weihehandlung davon. Das allein kann der geistigen Wirklichkeit auch in unserer Erdenwelt geben. Das Wort, das diese Wirklichkeit verkündet, ist nicht eines aus der Liste der uns bekannten und vertrauten Begriffe, schon gar nicht die alten, herkömmlichen und immer dichter gewordenen theologischen Begriffe, sondern das Wort, durch das dieser Geist sich verkünden will, sind wir selbst – indem wir uns dazu entschließen, es zu sein, und bereit sind, um diese Identität zu ringen, dafür preisgebend, was wir geworden sind, und um das ringend, was neu an dessen Stelle treten will. So ruhig, so friedvoll die Weihehandlung für das Erfahren unserer Weltsinne erscheint, so geeignet ist sie in ihrem übersinnlichen Geschehen, uns in dieses angesprochene Ringen, tätige Ergreifen, erkämpfen hineinzuwerfen; nur unser Nicht-wirklich-Verstehen schützt uns davor, dies auch zu bemerken. Im Übersinnlichen reißt sie uns fortwährend hinaus »über die Grenzen, die unsere Haut uns zieht«, hinein in jene Wirklichkeit, wo ihr Wort Flamme wird, wo ihre Tat Flamme wird, entzündet – und dadurch völlig verwandelt – durch den Geist, der sich ihrem Wort verbindet und durch es in die Sinneswelt hereinflammt – nicht im Sinne eines in »Bibelgräbern« auf immer festgelegten, sondern im Sinne eines heute lebenden und sich heute lebendig und neu verkündenden Wesens. In Nelly Sachs’ Gedichten wird uns unsere eigene Sprache fremd – auf dass wir lernen, neu und tiefer und aktiver zu lauschen auf das, was in unserer uns noch fremden neuen Sprache heute gesagt sein will. Das kann uns helfen, auch die Sprache der Menschenweihehandlung neu, tiefer, aktiver verstehen zu wollen, das uns bekannt Klingende immer wieder zu durchbrechen, gewissermaßen zu verbrennen, um fragend, lauschend an das Wesentliche heranzudringen, das durch die Worte in unser Dasein hindurchstoßen will. Dieses Erwachen für das Wesentliche unserer Gegenwart, für das Wesen dieses Augenblicks, macht Pfingsten für uns zur erfahrbaren Wirklichkeit, das Ergreifen des Geistes, der unser Lauschen, unser Sprechen, unser eigenes Wesen erfüllen will.

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Apostelgeschichte 2, 1 – 21

in der Übersetzung von Johannes Lauten

Als die Zeit erfüllt war am fünfzigsten Tage, waren alle Jünger einmütig im selben Raum versammelt. Da entstand plötzlich ein Ton aus den Himmelswelten, wie das Brausen eines machtvollen Windes, der erfüllte das ganze Haus, in welchem sie waren. Und ihrem Schauen erschien Feuer, das sich zungengleich auf jeden Einzelnen von ihnen verteilte und bei ihm blieb. Alle wurden sie vom Heiligen Geist erfüllt und begannen in fremden Sprachen zu reden; jeder sprach das aus, was der Geist ihm eingab.

Es waren zu der Zeit gottergebene Menschen in Jerusalem, Juden aus allen Völkern unter dem Himmel. Als diese Stimme erscholl, eilte die Volksmenge zusammen. Wie bestürzt waren sie, als jeder Worte in seiner eigenen Muttersprache gesprochen hörte. Außer sich vor Staunen sprachen sie: Seht, sind nicht alle die da reden, Galiläer? Wie kann es sein, dass wir sie jeder in unserer eigenen Sprache sprechen hören, in der wir geboren sind? Parther und Meder und Elamiter, Bewohner aus Mesopotamien und Armenien, aus Kappadozien, Pontus, Kleinasien Phrygien, und Pamphylien, aus Ägypten und den lybischen Landen nach Kyrene hin, zugezogene Römer, Juden und Proselyten, Kreter und Araber; wir alle hören sie in unseren Heimatsprachen die Allmacht Gottes künden.

Alle waren sie außer sich und vermochten nicht zu fassen, was geschah, und einer sprach zum anderen: Was soll das bedeuten? Andere aber höhnten: Sie sind trunken von süßem Wein.

Da aber trat Petrus mit den anderen elf Jüngern vor sie hin und wandte sich mit erhobener Stimme an die Menschen: Jüdische Männer und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, dies sei euch kundgetan. Hört meine Rede. Nicht trunken sind sie, wie ihr meint, sondern es erfüllt sich das Wort des Propheten Joel: „Meinen Geist will ich ausgießen auf alles, was auf Erden lebt. Weissagen werden eure Söhne und eure Töchter. Zum Schauen erwachen werden eure Jünglinge. Erleuchtet sollen eure Ältesten träumen. Auf alle, die mir dienen, Männer wie Frauen, wird mein Geist sich ergießen; mein Wort werden sie verkünden. Wunder werde ich wirken in den Höhen des Himmels und Zeichen in den Tiefen der Erde. Die Sonne wird sich zum Schatten wandeln und der Mond zu Blut. Dies alles geht voraus dem Tage des Herrn, dem großen Tag seines Erscheinens. Jeder, der sich zu dem Namen des Herrn bekennt, wird das Heil erfahren.“

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Evangelium zu Pfingsten

Johannes 14, 23 – 31, in der Übersetzung von Tom Tritschel

„Wer mich wahrhaft liebt“

Jesus antwortete: Wer mich in Wahrheit liebt, der trägt mein Wort in seinem Wesen, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. Wer mich nicht liebt, der trägt mein Wort nicht in sich. Und das Wort, das ihr vernehmt, ist nicht von mir, sondern vom Vater, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch gesprochen, weil ich noch bei euch bin.

Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Ich gebe ihn euch nicht, wie ihn die Welt gibt. Nicht schwach soll werden euer Herz und nicht furchtsam. Ihr habt gehört, wie ich gesagt habe: Ich gehe hin und komme doch zu euch. Wenn ihr mich wirklich liebtet, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich. Und nun habe ich es euch gesagt, bevor es geschieht, damit ihr Vertrauen habt, wenn es geschieht. Ich werde nicht mehr viel zu euch sprechen; denn es kommt der Herrscher dieser Welt. Über mich hat er keine Macht, aber die Welt soll erkennen, dass ich den Vater liebe und so handle, wie es mir der Vater aufgetragen hat. Seid bereit, so können wir ruhig diesen Ort verlassen.

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Die Brücke in den Himmel

Geschichte für Himmelfahrt von Georg Dreissig

Vor langer Zeit haben die Menschen einmal zum Himmel aufgeschaut und zueinander gesagt: »Es wäre doch recht schön, wenn wir zwischen Himmel und Erde eine Brücke bauen würden. Dann könnten wir, wenn wir wollten, hinaufgehen und schauen, wie es im Himmel aussieht. Ja, das wäre eine feine Sache.« »Aber«, gab einer zu bedenken, »wie machen wir es, dass kein Schelm über die Brücke in den Himmel wandert? Das würde den lieben Gott und die Engel vielleicht verärgern.« »Wir machen eine Schranke davor«, beruhigten ihn die übrigen, »und an die Schranke stellen wir einen Wächter, der keinen Schelm hindurchlassen darf.« Und meinten alle, selbst keine Schelme zu sein.

Dann haben die Menschen Schaufeln genommen und fleißig Sand aufgeschüttet. Aber immer, wenn sie einen großen Berg davon zusammen hatten, rieselte der Sand auseinander, und sie mussten alles aufs Neue beginnen. Endlich merkten sie, dass es mit Sand nicht zu machen sei. »Der Sand ist zu locker«, sagten sie, »wir müssen etwas Festeres nehmen.« Jetzt fingen sie an, die Brücke aus Steinen und Mörtel zu bauen. Nachdem sie sich aber ein Jahr um das andere abgemüht hatten, merkten sie, dass sie auch mit dieser Brücke aus Stein nicht bis zum Himmel kamen. Sie hatten einfach nicht genügend Steine. Jetzt waren sie ziemlich ratlos. Was sollten sie tun? Gab es denn niemanden, der ihnen helfen konnte? Seht, da kam ein Mann daher, das war aber ein verkleideter Engel. Der konnte ihnen Rat geben. »Wenn ihr eine Brücke in den Himmel bauen wollt«, sagte er, »dann dürft ihr dazu keinen Sand und auch keine Steine nehmen. Ihr müsst sie aus Wasser und Licht bauen, sonst stürzt sie zusammen.« »Aus Wasser und Luft?«, wunderten sich die Menschen. »Wie sollte das denn einer zuwege bringen?« Der Mann aber sagte, er wolle ihnen die Brücke schon bauen, und zwar nicht in einem Jahr, sondern in einem Augenblick. Sie sollten sich nur ein wenig gedulden. Da waren die Menschen sehr gespannt, was er ihnen zeigen würde. Als die Sonne begann, sich gen Abend zu neigen, hob der Mann die Hand und wies nach Osten. Da verdunkelte sich dort der Himmel, und es begann zu regnen. Wiederum hob der Mann die Hand und schrieb vor den Regenschleier einen weiten Bogen. Und was meint ihr, was da geschah? Auf einmal zeigte sich die Brücke zwischen Himmel und Erde, und sie war wirklich in einem Augenblick aus nichts anderem als aus Wasser und aus Licht gebaut. Es war der Regenbogen. »Seht ihr, schon ist die Brücke fertig«, sagte der Mann, »und es bedarf auch keines Wächters, der verhütet, dass ein Schelm darauf in den Himmel wandert. Die Brücke ist so geartet, dass Schelme sie gar nicht erst betreten können.« Sprachs’, trat vor aller Augen auf die Brücke und wanderte darauf in den Himmel. Ob ihm wohl einer gefolgt ist? Ach nein. Die Menschen blickten ihm nach und gingen still in ihr Haus. Sie hatten eingesehen, dass sie alle miteinander Schelme waren, als sie eine Brücke in den Himmel bauen wollten.

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Himmel sein für das Erdensein

von Georg Dreissig

In der Menschenweihehandlung heißt es von dem zum Himmel aufgefahrenen Christus, er lebe im Er-densein und verkläre das Erdensein mit Himmels-sein. Dafür, wie das vorzustellen ist, dass Erdensein mit Himmelssein verklärt wird, wollen wir versu-chen, Verständnis zu entwickeln.

»Ich sehe klar genug, was ich zu sehen brauche; die ganze Schöpfung lebt von Gottes Lebenshauche. Wie sie den Hauch empfing, das ist von Nacht um-hangen; wir aber preisen Gott, dass sie den Hauch empfangen.«
Wie sicher setzt Friedrich Rückert diese Aussage hin: »Ich sehe klar genug, was ich zu sehen brauche; die ganze Schöpfung lebt von Gottes Lebenshau-che.«

Wenn man dem doch ebenso klar und sicher bei-pflichten könnte! Aber diese Sicherheit des Sehens, der Erfahrung stellt sich bei uns nicht ohne weiteres ein. Wenn wir vom Himmel sprechen, von der Sonne, den Wolken, vom Wind, so können wir eini-germaßen sicher sein, dass die anderen Menschen verstehen, was wir meinen, worauf wir mit unseren Wörtern hinweisen. Nicht so, wenn wir vom Geist reden, und schon gar nicht, wenn wir von Erweisen des Geistes in der Sinneswelt, von Spuren Gottes in der Natur reden wollten. Wie kann es denn sein, dass dem einen alle Dinge der Welt von Gottes Da-sein und Wirken künden – der Glanz der Steine, die Schönheit der Blüten, die Ordnung der Sterne – und einem anderen dies alles nur materielle Angelegenheiten sind, die höchstens auf physikalische oder chemische Vorgänge hinweisen? Offensichtlich ist die Möglichkeit, geistige Offenbarungen wahrzunehmen, nicht an die Möglichkeit einer Sinneswahrnehmung als solcher geknüpft. Beim Nicht-wahrnehmen-Können geistiger Offenbarungen in der Welt handelt es sich gar nicht um eine Schwachheit der Sinne, sondern vielmehr um das Unvermögen, Wahrgenommenes als wesenhafte Offenbarung zu verstehen. Weil das Denken, das Verstehen nicht bereit ist, Geistiges zu erfassen, können die Wahrnehmungen nicht davon künden. Es gibt nichts, was den Sinnesprozess stärker beeinflussen und hemmen könnte als ein falsches Urteil, das wir einer Sache entgegentragen. Ja, wir können diese Tatsache sogar noch schärfer formulieren und sa-gen: Wir sind überhaupt nur solange in der Lage, mit unseren Sinnen wahrzunehmen, wie wir den ur-teilenden Verstand in seiner Tätigkeit zurückhalten können. Das ist aber leichter gesagt als getan. Jeder Mensch kann heute an sich selbst beobachten, dass scheinbar in demselben Augenblick, in dem unser Auge etwas sieht, in dem unser Ohr etwas hört, sich auch bereits ein Begriff, ein Name zu der Wahrnehmung hinzugesellt. Das urteilende Verstehen er-greift die Sinneswahrnehmung bereits, ehe sie sich voll entfalten konnte, und setzt ihr damit ein Ende. Der Tatsache, dass sich zu einer Wahrnehmung der zutreffende Begriff wie von selbst einstellt, verdanken wir ein gehöriges Maß an Sicherheit dem gegen-über, was auf uns aus der Sinneswelt eindringt. Wer einmal in der Situation gewesen ist, dass er einen Sinneseindruck nicht benennen konnte, wer erlebt hat, dass er etwas sieht, was er nicht versteht, der weiß, wie unsicher, ja ängstlich ein solches Ereignis machen kann. Dennoch gilt, dass das augenblickliche Bereitstellen eines passenden Begriffes dem Wahrnehmen selbst nicht zuträglich ist. Wollen wir Wahrnehmung üben, müssen wir diesen Vorgang kennen. Dann können wir in ihn eingreifen, können den sich einstellenden Begriff noch einmal zurück-drängen und auf diese Weise dem Sehen, dem Hören den Platz schaffen, den sie brauchen, damit sie sich entfalten können. So erziehen wir uns zum Staunen. Im Staunen aber verbindet sich statt des Denkens eine ganz andere Seelenkraft mit dem Wahrgenommenen: unser Gemüt, unser Mitfühlen. Welchen Unterschied macht es denn, ob wir mit dem Denken oder mit dem Empfinden, mit den Kräften unseres Gemütes die Dinge der Welt auf-nehmen? Malen wir uns einmal vor unseren inneren Blick eine Wiese, in helles, warmes Sonnenlicht getaucht, auf der zahllose Blumen ihre Blüten geöffnet haben und das allgemein vorherrschende Grün mit den unterschiedlichsten Farbtupfern bereichern. Lauschen wir dem Summen und Brummen der eifrigen Bienen und der emsigen Käfer, folgen wir in innerer Beschaulichkeit dem Gaukelflug der Schmetterlinge – hier zwei Zitronenfalter, drüben ein Pfauenauge, da hinten Kohlweißlinge – sobald wir sie zu zählen beginnen, sind sie verschwunden, aber andere tauchen unvermittelt auf… Der warme, ein wenig trockene Duft der Wiese steigt uns in die Nase. Ein Windhauch streicht über uns, und die Halme neigen sich leise vor ihm… Hätten wir keine Begriffe, wir könnten das Bild gar nicht in unsere Seele hereinrufen. Aber was aufgrund der Benennungen in unserer Seele entsteht, ist erstaunlicher Weise etwas ganz anderes als die Summe der aus-gesprochenen Begriffe. Es ist ein Erlebnis, eine Erfahrung, eine Stimmung, die von den Begriffen ganz unabhängig ist, die unmittelbar mit dem Wahrgenommenen selbst zusammenhängt. Was tut unser Gemüt? Es lässt die von den Begriffen zu den Din-gen leiten, auf die es hingewiesen wurde. Dann aber sieht es ganz ab von den Begriffen und lässt die Dinge selbst in sich aufleben. Es blüht mit den Blumen im Sonnenschein, gaukelt mit den Schmetterlingen über die Wiese, streicht mit dem Windhauch über die Halme. Das Gemüt fragt nicht, welcher Be-griff zu einer Wahrnehmung hinzugehört, es lebt sich in das Wahrgenommene selbst unmittelbar ein, identifiziert sich damit. Es setzt nicht einen Namen an die Stelle des Sinneseindrucks, sondern ergänzt und bereichert ihn mit einer seelischen Empfindung.
Das Gemüt schreibt der Seele nicht das Wort »Falter« ein, es macht, dass die Seele selbst ein wenig zum Falter wird – und das ist ihre Art, den Falter wahrzunehmen: nicht als Ding von außen, sondern als Wesen von innen. Indem es das tut, erlebt die Seele unmittelbar, dass sie mit den Dingen der Welt verwandt ist. Der Verstand hat es mit Objekten zu tun. Das Gemüt erlebt nicht objektiv, sondern subjektiv: Diese Erfahrungsweise erlaubt ihm, das Wesen der Dinge zu erfassen, ihr Inneres mit dem eigenen Erleben zu ertasten, ihre Absichten und Ziele als innere Erfahrung zu erspüren. Was dem Verstand nur Attribute sind, an denen es ein Ding wiedererkennt – der Stängel, die Blattform, die Blütenfarbe einer Blume–, das erfühlt das Gemüt als Gebärde, als Geste, in dem das so wahrgenommene Wesen sich ausspricht: im aufrechten Stängel sein Streben zum Licht, in der Rundung oder Zackigkeit der Blattform seine Wesenseigenart, im offenen Kelch seine Hingabe- und Empfangsbereitschaft. Wir sagten am Anfang, dass es dem Geistigen in der Welt gegenüber eine weit verbreitete Sinnesschwäche gebe. Wir haben zu zeigen versucht, dass diese Sinnesschwäche ihre Ursache nicht in der Beschaffenheit der Sinne selbst hat, sondern in der Art hat, wie wir uns im allgemeinen der Welt zuwenden. Unser schnelles Urteilen gewährt uns ein Gefühl der Sicherheit in der Fülle der Sinneseindrücke, die auf uns einstürmen. Es verhindert aber ein tieferes Wahrnehmen der Dinge um uns her. Nur was in unserer Seele aufleben, was in uns zu seinem äußeren Dasein eine innere Offenbarung hin fügen kann, das kann auch von seinem heimlichen Wesen, von dem in ihm verborgenen Geistigen künden. Unsere eigene Seele ist die Welt, in der die Dinge das geistige Wesen aussprechen, das sie in sich tragen, und wir müssen ihnen, wollen wir an das Geistige in ihnen rühren, den Zugang zu dieser Welt, die Beziehung zu unseren Gemütskräften, öffnen.

Mit dieser Haltung ist aber weit mehr verbunden als nur die Möglichkeit für uns selbst, an das Wesen-hafte in den Dingen der Welt zu rühren. Sie erscheinen nicht nur in unserer Seele anders, als sie allein von den Sinnen wahrgenommen würden; sie verwandeln sich auch, sobald unser liebevoller Blick auf sie fällt. (Davon spricht Rudolf Steiner in seinen Vor-trägen über »Anthroposophie und das menschliche Gemüt«.) Indem wir uns in ihr Wesen einleben, sie in unserem Mitempfinden erstehen lassen, ist es für die Naturwesen, als würden sie aus dem Traum ihres Daseins erwachen. In unserem eigenen Begreifen, begreifen auch sie, wer sie sind und welches Ziel sie in sich tragen. Was in der Pflanze als Seelengeste erstarrt und veräußerlicht erscheint, erfüllt sich nun mit Seele. Was im Tier als Seelentrieb vereinseitig erscheint, wird aufgenommen in das Wechselspiel menschlicher Seelenregungen und gewinnt Anteil am Willen zur Läuterung. Indem wir als Menschen die Beziehung zu ihnen aufnehmen, wird es den Dingen der Welt möglich, in einer gewissen Weise »Ich« zu sich zu sagen. Erlösung aus der Traumbefangenheit, der Schlafbefangenheit ihres Erdenseins suchen die Wesen der Natur in unserer anteilnehmenden Seele. Wo unsere Sinne wahrnehmen, da geht ein Teil der Verantwortung dafür, dass diese Erlösung geschehen kann, auf uns über. Davon schreibt Paulus den Römern, wenn er darlegt, dass die Wesen der Schöpfung voller großer Sehnsucht auf den Menschen schauen, der bewirken soll, dass auch durch ihre Reiche »der Atem der Freiheit hin-durchgehen« kann, auf dass sie die Vergänglichkeit abschütteln und Anteil am geistig Wesenhaften gewinnen können (Rö 8). Mit ganz anderen Worten spricht der Fuchs zum kleinen Prinzen in der gleichnamigen Erzählung von Saint-Exupéry von demselben Geheimnis, wenn er lakonisch feststellt: »Du bist für deine Rose verantwortlich.« Nicht nur für unsere Art des Erkennens und Verstehens der Welt ist es von Bedeutung, auf welche Weise wir uns den
Dingen zuwenden, auch für die Kreatur bedeutet es sehr viel. Indem wir uns vergegenwärtigen, in welchem Verhältnis zur Welt wir mit unseren eigenen Gemüts- und Erkenntniskräften stehen, haben wir eine Möglichkeit gewonnen, auch das Himmelfahrtsereignis in seiner Auswirkung tiefer zu begreifen. Vor dem Blick der Jünger entschwand die Gestalt Christi im Wolkenreich. Das Wesen Christi blieb nicht mehr auf den menschlichen physischen Leib beschränkt. Es wurde an Himmelfahrt welten-weit. Was das bedeutet, können wir jetzt ein wenig fassen. Nicht nur in der äußeren Welt haben die Dinge der Welt und haben wir selbst seither unser Dasein und Leben. Auch in seinem Wesen sind wir anwesend. »In ihm leben und weben und sind wir«, verkündet es Paulus (Apg 17, 28). Wie in uns die Dinge der Welt zu ihrem Eigenwesen erwachen, ihr Eigenwesen erfahren möchten, so gibt es auch für uns ein höheres Erwachen und ein höheres Erfahren unserer selbst durch die Tatsache, dass wir im We-sen des auferstandenen Christus mitleben. Unsere besten Absichten und unsere höchsten Ziele leben auf in seinem Mitfühlen, in seinem Mitwollen und werden dort für uns erkennbar – und auch für uns. Dieses Mitleben in der weltenweiten Christusseele ist die Grundlage dafür, dass wir immer wieder Auferstehung erfahren, Auferstehung aus den Abgründen unserer eigenen Schwäche, unserem Ungenügen, unserer Ziellosigkeit. Wenn wir zum Nachthimmel aufschauen, erkennen wir dort die zahllosen Sterne, die uns tagsüber verborgen waren. Jeder Mensch, so meinte man früher, habe dort oben seinen eigenen Stern. So können wir ahnen, dass in der zum Himmel gewordenen Christusseele ein jedes Menschenwesen wie ein Stern leuchtet, durchfühlt und in seinem Ziel verstanden und gefördert durch das Miterleben und Mitempfinden des Christus selbst. In unserem Erdensein verdüstert sich uns mitunter der Blick auf uns selbst, wir zagen, zweifeln an uns, am Sinn unseres Daseins. Indem wir uns einleben in den Himmel der Christusseele, kann unser Wesen sternengleich über uns aufleuchten. Wir erfühlen, wie er, Christus, uns denkt, wie er uns fühlt, wie er uns will.
So finden wir, von seiner Seelenkraft gestärkt, neuen Mut zu uns selbst und zum Leben auf der Erde, dass wir jetzt zugleich ein Leben erfahren im Himmel seiner weltenweiten Seele.
»In ihm leben und weben und sind wir.«