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Der Herzmusik des Universums lauschen

von Georg Dreißig

UND KLOPFTE mit dem Hammer seines Herzens
und riss des Todes Efeu fort von Bibelgräbern
und sah das Feuer- Wasser- Luft- und Sandgesicht entblößt
und sah das leere Meer von Stern zu Stern:
Die Einsamkeit; und sah in aller Augen Heimatwehe,
und alle Flügel hatten Heimat nur als Ort
und Abschied war ein Blatt vom Wort,
das fiel, und Seinen Namen hinterließ,
der wie ein Falke aus dem Sterben stieß –

(Nelly Sachs, »Und niemand weiß weiter«,1957)

Manchmal hört man in der eigenen Sprache sprechen – und versteht dennoch das Gesagte nicht; der Sinn bleibt einem verborgen. Die Gedichte der Nelly Sachs sind ein Phänomen dafür. Wir verstehen die einzelnen Wörter, verstehen einzelne Fetzen der Aussage, verstehen, dass in unserer Sprache verkündet wird, letztlich aber verstehen wir nicht. Das lässt uns – manchmal sehr rasch – am Sinn solcher Gedichte überhaupt zweifeln. Denn Hören und Verstehen gehen im Alltäglichen Hand in Hand; wir bemerken kaum, dass das Hören etwas ganz anderes ist als das Verstehen, das Begreifen. Gedichte wie die der Nelly Sachs machen uns für den Unterschied zwischen beiden hellwach: Ich höre – in meiner eigenen Sprache – und verstehe zunächst nicht. Es hilft uns in diesem Fall auch wenig, nach dem Hintergrund ihrer Herkunft zu fragen: Ist sie nicht Jüdin – oder Deutsche – oder Schwedin? Ihre Herkunft spricht aus ihren Worten nicht und kann uns das Gesagte nicht erklären. Sie sagt selbst davon in einem Brief vom 1. Oktober 1946: »… es ist auch gänzlich gleichgültig, ob ich sie schrieb oder irgendjemandes Stimme erklang. Aber es muss doch eine Stimme erklingen …« Und als die Menschen auf sie aufmerksamer wurden und mehr über sie erfahren wollten, schrieb sie: »… ich aber will, dass man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen …« (25. 6. 1959). Lauschen – in einem viel tieferen Sinn als gewöhnlich – hatte das Schicksal von Nelly Sachs gefordert. Gewöhnlich können wir uns weitgehend darauf konzentrieren zu hören, was um uns herum vorgeht. Nelly Sachs musste erlauschen lernen, wer sie selbst in ihrem Zeitalter eigentlich war, denn alles Ererbte wurde ihr genommen, und die eigene Existenz musste sie ganz neu finden und begründen. Nur im Sinn der nationalsozialistischen Gesetzgebung war Nelly Sachs Jüdin; ihrem eigenen Interesse und Lebensstil nach war sie Verehrerin der christlichen Mystiker und liebte Dichter wie Novalis und Hölderlin. Von Hause aus war sie wirtschaftlich so gut abgesichert, dass sie sich um ihren Lebensunterhalt nicht zu sorgen brauchte und bis zu ihrem 49. Lebensjahr, als das Schicksal des Jahrhunderts plötzlich ganz anderes forderte, nie einem Broterwerb nachgegangen ist. Auch in diesen Jahren hat die Berliner Fabrikantentochter gedichtet, romantische Reime, die bis heute weitgehend unbekannt geblieben sind. Hätte sie nicht Freunde gehabt, die die Gefahr, in der sie sich zusammen mit ihrer Mutter befand, klarer sehen und den Umständen entsprechend angemessener zu handeln verstanden, wäre sie den Verfolgungen und den Lagern nicht entgangen. Sie hatte diese Freunde, die die Unterstützung der alten Selma Lagerlöf finden konnten, und so konnte sie 1940 als »jüdische Emigrantin« nach Schweden entkommen. Hier findet sie sich in vielerlei Weise in der Fremde. Sie lebt im fremden Land, dessen Sprache ihr erst allmählich vertraut zu und zur Verfügung stehen wird, und sie ist fremd in dem Kulturumkreis der jüdischen Gemeinde, der das Schicksal sie zugesellt hat. Herausgerissen aus dem Vertrauten, aus den Grenzen der eigenen Haut, lernt sie, das Eigene weniger wichtig zu nehmen, das sie Umgebende als ihre Aufgabe zu akzeptieren. Nelly Sachs wird »nur eine Stimme«, die das, was sie erlauscht hat, in entsprechende Worte zu kleiden versucht. Sie gibt ihre Identität preis, und nimmt eine neue, ihren persönlichen Voraussetzungen völlig fremde Identität als Repräsentantin des 20. Jahrhunderts auf. Und wenn wir gegen ihren Willen doch ein wenig in ihre persönlichen beengten, armseligen Verhältnisse in der kleinen Stockholmer Wohnung, aus der sie selten herauskam, blicken und auf die kleine, scheue, ja ängstliche Person, die sie nach außen hin war, so finden wir da nichts von der Kraft, von der Macht , die in ihren Worten lebt. Das Herausgebrochen-Werden, das Herausgebrannt-Werden aus der eigenen Biographie lässt Nelly Sachs zur Lauschenden werden. Und noch ein Element spielt dabei eine entscheidende Rolle: das Lauschen auf die vielen Toten, zu denen auch viele ihr Nahestehende gehören. Sie spricht von diesem Lauschen folgendermaßen: »… da ich nicht wagte, in dem einen Zimmer, das wir [die kranke Mutter und sie selbst] bewohnten, Licht anzuzünden, um die kostbare Nachtruhe meiner Mutter, die so selten war, zu stören, so versuchte ich im Kopf immer wieder zu wiederholen, was sich da abspielte in der Luft, wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war. Am Morgen schrieb ich dann das so behaltene, so gut ich konnte, nieder … Dann kam, wie Du ja weißt, ›Sternverdunkelung‹ immer nah der Grenze zwischen Leben und Tod … Zuletzt ›Und niemand weiß weiter‹, wo sich mein Leben weit hinausbeugt über die Grenze, die unsere Haut uns zieht« (23. 1. 1957). »… wo sich mein Leben weit hinausbeugt über die Grenze, die unsere Haut uns zieht«, wo das Erleben andere als die nur vom Irdischen Dasein umschlossenen einbezieht, dort hinein wird Nelly Sachs Lauschende. Die vom Schicksal aufgerissene Frage: Wer bin ich denn?, verwandelt sich mehr und mehr in jene andere Frage: Was kann durch mich denn sein, ja: Was will durch mich denn sein? Also lauschen in das hinein, was noch nicht ist, aber sein will, und ihm dienen, das wird das Schicksal dieser Dichterin. Worauf lauscht man eigentlich dort, »was sich da abspielte in der Luft, wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war«? Auf Worte? Auf Sprache? Welche Sprache wird denn dort gesprochen, welche Worte werden dort wohl benutzt? Und: Wie spricht man das dort Erlauschte in Worten aus, die dem Erlauschten noch entsprechen? So fragend kann uns deutlich werden: Jede Sprache ist Fremdsprache – fremd – nicht identisch – dem, was eigentlich gesagt werden will, weil es selbst nicht Wort, sondern eben Erfahrung ist. Ich kann »rot« sagen; was aber hat das mit der Erfahrung des Rot noch zu tun? Das ist abhängig davon, ob durch das Wort im Zuhörer diese Erfahrung wieder geweckt, aufgerufen werden kann. Das Wort ist eines, und das, was sich dadurch einstellt, ein Anderes. Jedes Wort ist Fremdsprache, verfremdet das, was gesagt sein will, zu Lauten und Begriffen. Jedes Wort kann deshalb auch nur Durchgang sein, Tor für das Eigentliche; manchmal ist es passierbar, manchmal nicht. Jedes Wort ist Fremdsprache, muss dem Eigentlichen auch fremd bleiben, kann mit ihm nicht identisch, nicht eins werden – und braucht es auch nicht. Denn das Mysterium ist, dass auch das Fremde, das Beschränkte hinleiten kann in das Reich des Unausgesprochenen, des Unaussprechlichen, des Eigentlichen – wenn es auf ein Lauschen trifft, das geduldig ist, das beharren kann, das fragen kann, das sich nicht gleich verschließt, wenn es auf zunächst Unverstandenes stößt, auf Fremdes. Die Sprache kann dennoch wirksam werden, weil an der Wirklichkeit, die sie aussprechen will und nur sehr begrenzt aussprechen kann, unausgesprochen jeder bereits Anteil hat. Sie wirkt in ihn hinein, er lebt in ihr. Die Sprache ruft es ihm ins Bewusstsein. Was einen tief berühren kann, ist nun die Tatsache, wie ganz anders jene Wirklichkeit ist, die da von der Dichterin erlauscht wird, die da in die Worte ihrer Gedichte hineindrängt, als jene ist, die sich dem gewöhnlichen Wahrnehmen bietet. Bereits in einem Brief aus dem Jahr 1949 schreibt Nelly Sachs: »… ich danke Ihnen für die Warnung, das Konkrete nicht zu vergessen. Nein, das werde ich niemals tun. Ganz im Gegenteil, ich fühle die Verantwortlichkeit, die jedes Wort mir auferlegt, so stark, dass ich oft etwas zu leicht Gefundenes fallen lasse und mir lieber, wenn auch noch ungeschickt, das Felsgestein an unbebauter Stelle lockere. Und in dieser Zeit der letzten Atemzüge, wo man von allen Seiten her direkt an die Grenzen gerissen wird, vielleicht nicht mehr wie in früheren Verzweiflungen sich in den Abgrund zu stürzen und auch nicht wie in der Romantik darüber hinwegzufliegen, wohl aber als Übung das hier in so schreckliche Perspektiven geratene von einer weiteren Aussicht überscheinen zu lassen. Der Glaube wächst, scheint mir, mit der Wissenschaft. Und wie dem Lied einer Amsel einst in stillen Frühlingstagen, so suchen wir nun der Herzmusik des Universums zu lauschen. Das Göttliche scheint mir herrlicher denn je, aber die Völker mögen bei dem Ausbruch über die Grenzen zu viel des eigenen Schutts über die neuen Gefilde geworfen haben …« (12. 4. 1949). Hier die Zeichen von Hass und Krieg, die lebendigen Erinnerungen an maßlose Greueltaten: Untergang; dort, »wo die Nacht wie eine Wunde aufgerissen war«, Herzmusik des Universums«, wie das Lied einer Amsel in stillen Frühlingstagen: Aufgang neuer Gefilde. Darauf versucht Nelly Sachs nicht nur hinzuweisen, sondern so zu sprechen, dass etwas von dieser Realität die Seele des Hörenden erreichen und sich ihr mitteilen kann im bereitwilligen immer wieder Lauschen mit dem Herzen.

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»UND KLOPFTE mit dem Hammer seines Herzens«

– da wird die Tätigkeit des Herzens zu einer Kraft; da hat der Herzschlag Gewalt, wird hörbar, wird unüberhörbar. Er verändert das Seiende, fordert Öffnung, bricht auf –

»und riss des Todes Efeu fort von Bibelgräbern«

– ein Erstorbenes, Erstarrtes, ins Grab Gelegtes wird neu anschaubar, neu wahrnehmbar, indem das Tote, Verdeckende – das können auch die bekannten, zu schnell, zu gut verstandenen Begriffe sein, mit denen etwas Biblisches bezeichnet wird – weggerissen wird – im neu Übersetzen, Neubilden eines Begriffes – statt: Gott der Vater z. B. »ein allmächtiges geistigphysisches Gotteswesen –

»und sah das Feuer- Wasser- Luft- und Sandgesicht entblößt«

– auf einmal wird hinter dem Gewordenen, in einer vielleicht bereits jahrhundertelang bekannten und längst nicht mehr hinterfragten, hohl gewordenen Form, das Seiende, das Wesende erfahrbar: das, dessen Gesichtszüge den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde in der äußeren Welt zwar eingeschrieben sind, aber nicht mehr erkannt werden –

»und sah das leere Meer von Stern zu Stern: Die Einsamkeit«

– den Zwischenraum zwischen dem Erscheinenden, das, was wie Abstand erscheint, zugleich aber doch auch der Raum des Verbindenden ist, das unsichtbar Gemeinsame – die Einsamkeit, die als Alleinsein erfahren werden kann, aber auch als »All-eins-sein« –

»und sah in aller Augen Heimatwehe, und alle Flügel hatten Heimat nur als Ort«

– wo die Sehnsucht nach Heimat erwacht, regen sich, als wären sie ganz selbstverständlich Teil von uns, die Flügel, die uns erlauben, uns zu dieser Heimat wieder aufzuschwingen – als hätten wir nur vergessen, dass sie uns doch gegeben sind –

»und Abschied war ein Blatt vom Wort, das fiel, und Seinen Namen hinterließ«

– das Finden der Heimat weckt das Bewusstsein dafür, dass wir von dort Abschied genommen haben – und dieser Abschied trägt einen Namen, Seinen Namen, hat mit Ihm zu tun, ist mit Ihm verbunden,

»der wie ein Falke aus dem Sterben stieß –«

– das ist reinste Geistesgegenwarts-Erfahrung: dass etwas scheinbar Totes plötzlich und überraschend lebendig erscheint, wie ein Falke angriffslustig, kämpferisch, zielgewiss aus dem Sterben hervorstößt. Haben wir verstanden? Hoffentlich nicht! Nicht zum Verstehen soll hier ermuntert werden, sondern zum Lauschen, zum Einlassen auf die Wirklichkeit, auf die die Worte des Gedichtes hinweisen, zum Einlassen der Wirklichkeit in unsere Seele: unser Erfühlen, unser Ahnen, unser Wollen. Nicht um intellektuelles Verstehen geht es, sondern um das Anknüpfen an ein Leben, an ein Wirken, an ein Wesen jenseits der »Grenze, die unsere Haut uns zieht«. Es geht nicht um das Verstehen, was mit dem »Hammer seines Herzens« gemeint ist, sondern um den kraftvollen Schlag des Herzen selbst, sein Anklopfen, sein Aufklopfen, sein Eindringen in jenen Bereich, in welchem der göttliche Geist gegenwärtig schaffend tätig ist, um das Erahnen und Erfahren und Ergreifen seines Wirkens als der entscheidenden Wirklichkeit. Das Lauschen »über die Grenze, die unsere Haut uns zieht«, kann kein passives Aufnehmen eines sich selbstverständlich Darbietenden mehr sein, sondern ein aktives Erringen, ein tätiges Ergreifen – »Im Ergreifen des Geistes durch unsere Menschheit«, sagt die Weihehandlung davon. Das allein kann der geistigen Wirklichkeit auch in unserer Erdenwelt geben. Das Wort, das diese Wirklichkeit verkündet, ist nicht eines aus der Liste der uns bekannten und vertrauten Begriffe, schon gar nicht die alten, herkömmlichen und immer dichter gewordenen theologischen Begriffe, sondern das Wort, durch das dieser Geist sich verkünden will, sind wir selbst – indem wir uns dazu entschließen, es zu sein, und bereit sind, um diese Identität zu ringen, dafür preisgebend, was wir geworden sind, und um das ringend, was neu an dessen Stelle treten will. So ruhig, so friedvoll die Weihehandlung für das Erfahren unserer Weltsinne erscheint, so geeignet ist sie in ihrem übersinnlichen Geschehen, uns in dieses angesprochene Ringen, tätige Ergreifen, erkämpfen hineinzuwerfen; nur unser Nicht-wirklich-Verstehen schützt uns davor, dies auch zu bemerken. Im Übersinnlichen reißt sie uns fortwährend hinaus »über die Grenzen, die unsere Haut uns zieht«, hinein in jene Wirklichkeit, wo ihr Wort Flamme wird, wo ihre Tat Flamme wird, entzündet – und dadurch völlig verwandelt – durch den Geist, der sich ihrem Wort verbindet und durch es in die Sinneswelt hereinflammt – nicht im Sinne eines in »Bibelgräbern« auf immer festgelegten, sondern im Sinne eines heute lebenden und sich heute lebendig und neu verkündenden Wesens. In Nelly Sachs’ Gedichten wird uns unsere eigene Sprache fremd – auf dass wir lernen, neu und tiefer und aktiver zu lauschen auf das, was in unserer uns noch fremden neuen Sprache heute gesagt sein will. Das kann uns helfen, auch die Sprache der Menschenweihehandlung neu, tiefer, aktiver verstehen zu wollen, das uns bekannt Klingende immer wieder zu durchbrechen, gewissermaßen zu verbrennen, um fragend, lauschend an das Wesentliche heranzudringen, das durch die Worte in unser Dasein hindurchstoßen will. Dieses Erwachen für das Wesentliche unserer Gegenwart, für das Wesen dieses Augenblicks, macht Pfingsten für uns zur erfahrbaren Wirklichkeit, das Ergreifen des Geistes, der unser Lauschen, unser Sprechen, unser eigenes Wesen erfüllen will.