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Corona

Geschichte für den zweiten Ostersonntag

von Georg Dreißig

Vom Kind, das ging, Hilfe zu holen

Eines Tages ist die Großmutter auf einmal blind geworden. Sie konnte das Sonnenlicht nicht mehr sehen und sich nicht mehr allein zurechtfinden. Da hat das Kind bei sich gedacht. »Ich will gehen und schauen, ob ich für die Großmutter irgendwo Hilfe finden kann.« Kurz entschlossen zog es Stiefel und Mäntelchen an und griff nach dem Hütchen. Es kam zur Weide. »Wo gehst du hin, Kind?«, fragte das Lämmlein. »»Die Großmutter kann das Sonnenlicht nicht mehr sehen «, erwiderte das Kind. »Ich gehe, um ihr Hilfe zu holen.« – »Dann suche auch Hilfe für mich«, bat da das Lämmlein. »Ich habe mich am Bein gestoßen, dass ich gar nicht mehr springen kann.« – »Ich will schon Hilfe für dich finden«, versicherte das Kind und ging weiter.

So kam es zum Fluss. »Wo gehst du hin, Kind?«, seufzte es ihm aus dem Wasser entgegen. »Die Großmutter kann das Sonnenlicht nicht mehr sehen, und das Lämmlein kann nicht mehr springen«, erwiderte das Kind. »Ich gehe, um ihnen Hilfe zu holen.« – »Dann suche auch Hilfe für mich«, bat da der Fluss, »denn mein Wasser ist ganz trübe geworden und mag gar nicht mehr lustig rauschen.« –

»Ich will schon Hilfe für dich finden«, versicherte das Kind und ging weiter.

Endlich kam es an einen Berg, und als es näher trat, bemerkte es im glatten Gestein ein offenes Türchen, aus dem es milde hervorleuchtete. »Hier will ich Hilfe suchen«, sprach das Kind da zu sich und trat in den Berg ein. Es musste viele Stufen hinuntersteigen, aber es war ihm nicht unheimlich, denn um es her leuchtete das milde Licht, und ein zarter Glockenklang war aus der Tiefe zu hören. Der schien das Kind zu rufen.

Auf dem Grund des Berges sah das Kind einen Jüngling in einem weißen Gewand sitzen, und

neben dem Jüngling sprudelte eine Quelle aus dem Erdengrund, die klang wie eine Glocke.

»Ich weiß, was du suchst«, sagte der Jüngling. »Du suchst Hilfe für deine Großmutter, die das Sonnenlicht nicht mehr sehen kann, und für das Lämmlein, das nicht mehr springen kann, und für den Fluss, dessen Wasser nicht mehr lustig rauschen mag. Schöpfe mit deinen Händen aus der Quelle, die wie eine Glocke tönt, und gib von dem Wasser jedem, der dich um Hilfe gebeten hat, ein Tröpflein, so werden sie Heilung finden.«

Da dankte das Kind dem Jüngling, schöpfte Wasser aus der Quelle, und dann eilte es die vielen, vielen Stufen wieder hinauf ans Tageslicht. Vorsichtig trug es das Wasser zurück.

Als das Kind zum Fluss kam, gab es ihm ein Tröpfchen aus der Quelle. Da begann das Wasser wieder lustig zu rauschen.

Als das Kind zur Weide kam, gab es dem Lämmlein ein Tröpfchen. Da konnte das Lämmlein wieder fröhlich über die Weide springen.

Als es nach Hause kam, ging es zur Großmutter hinein und träufelte in jedes ihrer Augen ein Tröpfchen von dem Wasser aus der Quelle, die wie eine Glocke klingt. Da konnte die alte Frau das Sonnenlicht wiedersehen und dankte Gott.

Das Kind aber hat sich den Weg zu dem Jüngling, der neben der Quelle auf dem Grund des Berges sitzt, gut gemerkt und bei ihm Wasser geholt, wenn immer eins in Not war und Hilfe brauchte.

***

Anregung zur Geschichte:

Malt uns doch zu dieser Geschichte ein paar schöne Bilder: von der Großmutter, dem Lämmlein und dem Fluss, oder auch der Quelle mit dem Jüngling. Ich würde mich freuen, wenn ich in der nächsten Woche damit die Sonntagsgabe schmücken könnte.