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Im Anschauen der Wunde – kleine Besinnung

Halte still, du Wandersmann,
und sieh dir meine Wunden an.
Die Wunden steh’n.
Die Stunden geh’n.
Nimm dich in Acht und hüte dich,
was ich am Jüngsten Tage über dich
für ein Urteil sprich.

(Autor Unbekannt)

Wir haben alle Wunden – kleine, große und solche, von denen wir lange nichts wissen, weil sie uns nicht bewusst sind. Verwundet sein ist alltäglich. Es macht uns menschlich. Und weil wir alle verletzbar sind, gehört die Wunde zu unserem Menschsein schlechthin. Sie verbindet uns, wenn wir fragen „wie geht es Dir?“. Und – sie verbindet uns in unserer Sehnsucht nach Heilung.

In Zeiten von Krankheit und anderen Krisen stellen wir uns diesen Wunden und dieser Sehnsucht in einer ganz besonderen Tiefe. Fragen, die vorher kaum hörbar waren, brauchen nun Raum. Sie sind kostbar, weil sie die Lebendigkeit unserer Seele spiegeln, die sich nun auf den Weg macht. In unseren modernen Zeiten von Freiheit und Selbstverwirklichung, denen nicht selten dramatische Brüche gewohnter und geborgener Lebenszusammenhänge vorausgehen, brauchen wir Halt in uns selbst. Dieser Blick nach innen ist oft schmerzhaft, weil er auch an das erinnert, was schwer war.

Die eigene Geschichte hat uns zu dem gemacht, der wir sind und der von dem, der werden will, noch nichts weiß. Doch im Strudel des „woher?“ und „wohin?“ erkennen wir uns selbst.

Wohin haben die Jünger an diesem Abend geschaut und woher kam der Auferstandene?

Das Evangelium spricht in dem kurzen ersten Absatz von einem enormen Verwandlungsprozess. Stellen Sie sich vor, ganz so, wie Sie es heute können, wie die Jünger zusammen sind, stehend, sitzend, in einem geschlossenen Raum, in Furcht vor «den anderen» und in Trauerschmerz. Und da hinein erscheint der Auferstandene, an diesem Ort der Verzweiflung, im Inneren. Und seine Botschaft lautet als erstes: Der Friede sei mit euch. Doch nur durch das Zeigen der Wunden, vermögen sie ihn zu erkennen und ihre Trauer verwandelt sich in Freude.

Was ist das Geheimnis der Wunde an Ihm, an uns und an unserem Gegenüber? Was ist Wunde überhaupt? Und was wäre der Mensch ohne Wunde?

„Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will.“ (Joseph Beuys)

Ist das so, dass die Krankheit offenbar werden muss, damit sie geheilt werden kann und wie stellen sich dann die Jünger ins Verhältnis zu Jesus, der ihnen seine Wunden offenbart? Was hat Er geoffenbart?

Er sagt zu ihnen (Joh. 15, 15): Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich euch alles kundgetan habe, was ich von meinem Vater gehört habe.

Wie verbindet sich die Krankheit, die Wunde, das Leid, mit meinen Mitmenschen? Wo kann ich Wunden offenbaren, damit sie heilen, wenn nicht gegenüber meinen Freunden? Ich benötige meine Mitmenschen zur Heilung und trage Mitverantwortung für die Heilung meiner Mitmenschen.

Das ist der Raum, in den Christus eingetreten ist. Er offenbart seine Wunden und im Anschauen der Wunden erkennen die Jünger, nunmehr Freunde, ihre eigenen Wunden. Denn im Anschauen Seiner Wunden, erkennen wir uns selbst.

Damit haben wir immer wieder die Möglichkeit, uns selbst anzuerkennen als ein Verwundeter und dadurch eine Verbundenheit mit Christus zu wissen. Aber auch eine Verbundenheit mit allen Menschen zu teilen. Und wenn es so ist, dass wir zusammenstehen in der Strömung der Menschheit und wir als Menschen verwundet und verbunden sind, so kann die offenbarte Krankheit, also die uns als Menschen eigene, durch unser persönliches Handeln geheilt werden und damit zur Heilung der Menschheit beitragen. Und dies nur, weil wir durch die Wunde mit Christus und der Welt verbunden sind.

Wunden der Seele sind die Organe, durch die Heilung in uns einziehen kann. Mögen sie von der Hand eines unerbittlichen Schicksals geschlagen sein, mögen sie andere Menschen uns zugefügt haben, mögen schliesslich wir selbst uns die allertiefsten gerissen haben – sie sind die offenen Tore der Seele –

durch sie findet uns die Liebe, die heilt, indem sie die Wunde zum Auge wandelt und das Geschwür zum Ohr umbildet – für eine höhere Welt.

Toren sind die Menschen, die versuchen, sich ihrer Wunden zu entledigen, indem sie sie oberflächlich zuwachsen lassen. Denn in der Tiefe schwärt das Unglück nur weiter – und bei dem geringsten Anlass zerbricht der Schorf und das Unheil ist grösser als jemals zuvor.

Offene Wunden – zu Liebesorganen gewandelt – ewig trägt sie der Auferstandene an seinem Leibe, und sie sind der Quellort des ewigen Heiles für die Welt, Erde und Mensch. (Friedrich Benesch)