Georg Dreißig
Die
Bilder der Kreuzigung und das Bild vom Samenkorn
Was auf Golgatha geschah, versuchen wir Jahr für Jahr neu zu fassen, und mit diesem Versuch stehen wir ganz im Einklang mit dem Willen des Engelsfürsten Michael. Er winkt uns, so hören wir es im Zeitengebet zu Michaeli, ihm zum höhern Ahnen der Lebens-Todestat auf Golgatha zu folgen, damit daraus Licht ins Erdenleben strömen kann. Um ein Ahnen handelt es sich dabei, d.h. um ein In-Beziehung-Treten zu einer Wirklichkeit und Wirksamkeit, noch ehe sie deutlich erkenn- und beschreibbar vor unserem Blick erscheint.
Ein entscheidendes Hindernis, das Geschehen auf Golgatha zu begreifen, ist, dass die Bilder, die die Berichte der Evangelien vor uns hinstellen, nur abbilden, was Menschen aus bösen Absichten Christus angetan haben. Nicht ins Bild tritt, was Christus selbst innerlich durchmacht und in welcher Weise er in der scheinbaren Ohnmacht dennoch der Handelnde und die Geschehnisse Leitende ist.
Für diese Seite des Geschehens hat Christus am Palmsonntag selbst ein überraschendes Bild gegeben. Johannes überliefert das Christuswort: Die Stunde ist gekommen, da der Sohn des Menschen verherrlicht werde. Ja, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn, das in die Erde versenkt wird, nicht erstirbt, so bleibt es allein. Erstirbt es aber, so trägt es viele Frucht (Joh 12,23 ff.).
Christus hat gewusst, was geschehen wird. Dreimal hat er
angekündigt, dass ihm Leiden bevorstünden, beim dritten Mal sogar seine
Kreuzigung vorausgesagt (Mt 20,19). Dennoch geht er nach Jerusalem, obwohl
seine Jünger ihn davor warnen, mehr noch: Er fordert sogar auf, ihm zu folgen.
Christus weiß, dass ihn der schmachvolle Tod am Kreuz
erwartet – und er spricht vom Säen. Seine letzten Worte am Kreuz „Es ist
vollbracht“ (Joh 19,30) unterstreichen, dass er in dem Bewusstsein
stirbt, eine Tat zu tun, die ihm aufgetragen war, die er vollenden wollte und
am Kreuz vollendet. (Auf heimliche Weise greift das Wort „vollenden“ übrigens
den Hinweis auf die Saat wieder auf und ergänzt das von Christus gegebene Bild.
Das griechische Wort teleo besagt ursprünglich, dass eine Ackerfurche
bis ans Ende gezogen worden ist, bis zum Wendepunkt. Wenn alles vollendet ist,
ist der Acker umgepflügt: Es kann gesät werden.)
Hier sei der Versuch unternommen, hineinzufühlen in das,
was Christus im Sterben beabsichtigt und bewirkt, indem wir uns von seinem Bild
vom Samen leiten lassen, der in die Erde versenkt werden und ersterben muss.
Wie
Christus selbst in dem Geschehen darinsteht
Was
werden wir selbst innerlich erleben, wenn unser eigener Tod unmittelbar
bevorsteht? Die Erinnerungen, die angesichts des nahen Lebensendes in uns
aufsteigen, fragen nicht mehr nach Zeit und Ort, sie sind alle gleichzeitig
gegenwärtig: die Kindheitserlebnisse sind uns ebenso nah wie das, was gestern
geschehen ist; ein farbenreiches Kaleidoskop von Orten, Erfahrungen, Gefühlen
und Impulsen, was wir da in diesem Erdenleben zusammengesammelt haben und was
unsere Seele nun ausfüllt. Insbesondere aber wird in uns lebendig, was wir mit
Menschen erlebt haben, für die wir vielleicht eine besondere Verantwortung
hatten: die Kinder, die Partner, die Freunde. Alles dies vergegenwärtigt sich,
leuchtet wieder auf, und es ist ganz und gar erfüllt und durchtränkt von
Empfindungen unterschiedlichster Art: Freude und Kummer, Dankbarkeit und
Beglückung, Schuld und Scheitern. Über all diesem aber tönt das unfassbare,
eherne „Nicht mehr“. Diese ganze Fülle, die du da eben erlebst, wirst du mit
Notwendigkeit fahren lassen müssen in ein, zwei, drei Tagen.
Zu dem Gewesenen gesellt sich aber noch etwas ganz anders
Geartetes: das Bewusstsein von den Möglichkeiten, die in all dem
Wieder-Erinnerten geschlummert haben, die aber nur zum Teil verwirklicht, zum
anderen Teil brach liegen gelassen wurden. Zum Vergangenen gesellt sich ein
Empfinden dafür, was daraus hätte werden können, ein mögliches Zukünftiges, das
es nicht mehr geben wird. Damit paart sich immer stärker die jetzt vergebliche
Sehnsucht: Ach, könnte ich es doch noch zu Ende führen! Besonders schmerzvoll
dürfte sein, dass wir das, was wir in den Beziehungen zu den mit uns
verbundenen Menschen versäumt haben, jetzt als unabänderlich akzeptieren
müssen.
Das Vergangene und das darin veranlagte Zukünftige, das
unentfaltet in den Tod hineingeht, fließen im Jetzt des Sterbens zusammen,
konzentrieren sich angesichts des eigenen Todes in einem Punkt. Wir können auch
sagen: Ein ganzes Menschenleben zieht sich wie in ein Samenkorn zusammen. Ist
das der Same, von dem Christus am Palmsonntag gesprochen hat? In welche Erde
müsste es versenkt werden, um neues Leben entfalten zu können?
Was
Christus im Sterben bewirkt
Was
mag im Bewusstsein des am Kreuz Sterbenden gelebt haben?
Für Christus ist die Kreuzigung gar nicht das Ende,
sondern der Wendepunkt seines Wirkens. Auch darin finden wir das Geheimnis des
Samens wieder: Das scheinbare Ende bereitet ein neues Werden vor. Sein Sterben
aber ist ein Menschentod. Er verflüchtigt sich nicht aus der Inkarnation, wie
ein griechischer
Gott
es getan hätte, und er verendet nicht wie ein Tier; er stirbt als Mensch mit
wachem
Bewusstsein für das, was er da erleidet.
Es ist wohl nicht vermessen zu meinen, dass im Augenblick
des Sterbens das Bewusstsein Christi sich weiterspannt als bis in die Jahre der
Kindheit. Raum und Zeit, Weltenanfang und Weltenziel fallen ineinander,
durchdringen einander in seinem Herzen. Im Augenblick der Kreuzigung ist das
Herz Christi das Zentrum der Welt: Urbeginn und Ziel.
Die Evangelien beschreiben uns nicht, wie Christus die
Orte, an denen er weilte, erlebt und was er davon in seiner Erinnerung getragen
hat. Viele Einzelheiten aber hören wir von Menschenschicksalen, mit denen er
sich verbunden und denen er oft eine neue Richtung gegeben hat. Wir können uns
hineinfühlen, wie diese jetzt in seinem Bewusstsein wieder aufleuchten mögen:
Maria Magdalena, die von sieben Dämonen Besessene, die ihn gesalbt hat, Judas,
der ihn verraten hat, Petrus, der dem Diener des Hohenpriesters das Ohr
abgeschlagen hat, die Ehebrecherin, die er ermahnt hat, nicht mehr zu sündigen,
der Jüngling zu Nain, den er ins Leben zurückgerufen hat, Lazarus, der unter
dem Kreuz steht … Wer wäre nicht in seinem Bewusstsein anwesend! Auch in seinem
Sterben leuchten die gemeinsamen Begegnungen und Erfahrungen auf, damit
verbunden auch all das, was als Möglichkeiten in diesen Menschenschicksalen
veranlagt war, was ihnen durch Christi Hilfe möglich geworden war, und darüber
hinaus das offen Gebliebene, nicht Erfüllte, das von Sehnsucht und vergebener
Hoffnung Durchtränkte – und schließlich auch das, was sich im Tod als falsch,
unwahr und ungut enthüllt.
Die ganze Saatenfülle konzentrierter Menschenschicksale
trägt der Gekreuzigte in seiner Seele in dem Augenblick, da er im Sterben ganz
und gar Mensch wird. Am Kreuz klingen diese Schicksale zusammen mit seinen
Weltenzielen, jenen Zielen, die uns vor der Geburt den Impuls gegeben haben,
ein Erdenleben anzutreten. Im Herzen des Gekreuzigten finden wir uns selbst
wieder in dem Lebendigsten, das wir haben: unserer Teilhabe am Schöpferwerk
Gottes.
Und nun können wir uns klar machen: Was im Bewusstsein
dessen aufleuchtet, der da am Kreuz den Menschentod erleidet, sind im Gegensatz
zu dem, was wir selbst im Sterben durchmachen werden, durchaus keine „Nicht
mehr“-Erfahrungen. In seinem Herzensbewusstsein bleibt Christus mit all diesen
Schicksalen über den Tod hinaus verbunden, und just die unerfüllten Sehnsüchte
und Hoffnungen, die Versäumnisse und Abirrungen werden jetzt kostbar, denn sie
bilden die offenen Stellen, die Keimpunkte, an denen Christus diese
Menschensamen erreichen und sie mit seinem Hingabewillen und Diene-Mut, seiner
Klarheit und Verantwortungsbereitschaft durchtränken kann, wie die Sonne mit
ihrer Wärme die Saat durchtränkt. Dem „Nicht mehr“ des Todes stellt er eine
stärkere Kraft entgegen:
die
Kraft der Auferstehung. Die Erfahrung „Nicht Ich“ fließt hinein in die andere:
„Christus in mir“.
Das
Kreuz im Zentrum der Menschenweihehandlung
Wann
findet die Menschenweihehandlung statt, die wir miteinander feiern? Wir können
unsere Kalender und Uhren befragen, und sie werden uns eindeutige Antworten
geben. Wir können aber auch empfinden, dass im Sakrament Zeit und Raum wie in
einem heiligen Punkt zusammenströmen, in dem das Christusgeschehen ebenso
gegenwärtig ist wie das, was wir in unserer Biografie gerade durchleben. Als
Opfernde stehen wir wie im Sterben am Ende eines Werdens, fassen zusammen, was
wir uns erworben haben, bereit, es hinzugeben. Wir tauchen in diesem Vollzug
ganz bewusst in das Wesen und Wirken des auferstandenen Christus ein und
handeln mit ihm.
Diese Vergegenwärtigung jederzeit und überall gilt auch
für das Golgathageschehen selbst.
Im Zentrum der Menschenweihehandlung heißt es, „mit
diesem Worte“ sei den Menschen das Göttliche wieder gegeben. Dieser Aussage
gehen aber gar keine Worte, sondern Zeichen voraus: die drei Kreuze, die zur
Weihe über die Substanzen Brot und Wein geschlagen werden. Am Kreuz gewinnt der
Mensch wieder seinen Anteil am Göttlichen, weil Christus unser sterbendes – in
diesem Zusammenhang können wir auch sagen: unser geopfertes – Wesen in sich
aufnimmt und keimfähig erhält. Die Menschenweihehandlung nennt diese
Keimkräfte, die von ihm ausgehen, das neue Bekenntnis und den neuen Glauben.
Das höhere Ahnen der Lebens-Todestat auf Golgatha, zu der
Michael uns führen will, kann darin bestehen, dass wir uns immer wieder
bekennend und glaubend durchdringen mit dem Wesen des Christus, der sich in seinem Sterben nicht nur
zeichenhaft, sondern wirksam zu uns bekennt und an uns glaubt, und dass wir zu
fühlen versuchen, wie dieses Bekenntnis und dieser Glaube uns öffnen für seine
Anwesenheit, die sonnenhaft in uns eindringt als in seine Saat und uns
empfänglich und keimkräftig macht für das Gute.
Jedes Mal, wenn wir das Kreuzeszeichen schlagen, treten
wir ein in das Golgathageschehen. Immer fallen da Ewigkeit und Augenblick, Raum
und Zeit, Weltenfernen und Erdennähe zusammen im Jetzt: Jetzt ist es an der
Zeit, hier soll es geschehen – durch mich, aber nun nicht durch mich, sondern
durch den Christus in mir. Ich bin der Same, in dem die Christussonne Leben und
Entfaltung wecken will und kann – im Tod, im Auferstehen.