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Geschichte für den fünften Ostersonntag

von Georg Dreißig

Ruths Tapetentür

Ruth ist sieben Jahre alt, aber weil ihre Arme und Beine nicht so stark sind wie die Arme und Beine von anderen Kindern, muss sie viel im Bett liegen oder im Rollstuhl sitzen. Deshalb kommt sie auch nicht so leicht aus ihrem Zimmer heraus. Dennoch erzählt sie euch immer wieder, dass sie eben einen Spaziergang gemacht habe. Wo war sie denn, und wer hat ihren Rollstuhl für sie geschoben? Wenn ihr euch in Ruths Zimmer etwas genauer umschaut, bemerkt ihr, dass jemand etwas an ihre Wand gemalt hat: Mit einem schwarzen Stift hat er etwas schief und nicht besonders schön ein ziemlich hohes Viereck gezeichnet. Ruth macht es nichts aus, dass das Viereck nicht so hübsch geworden ist, denn für sie ist es gar keine Zeichnung, sondern eine Tür.

 »Das ist meine Tapetentür«, erklärt euch Ruth, »mein Pate hat sie für mich dorthin gemalt, dass ich hinausgehen kann, wann immer ich will, und auch jederzeit Besuch empfangen kann.«

Ei, werdet ihr vielleicht denken, durch eine Tür, die einfach nur auf die Wand gezeichnet ist, kann man doch nicht hindurchgehen. Wo soll man denn da eine Klinke herunterdrücken und wie die Tür aufstoßen? Wenn ihr es selbst versucht, wird es euch auch kaum gelingen. Nein, so geht es natürlich nicht. Ruth aber hat gelernt, wie es geht. Sie hat lange Zeit, wenn sie im Bett lag, einfach auf ihre Tapetentür geschaut und sich ausgedacht, was dahinter liegen mag. Da hat sie vor sich ein schönes Land gesehen mit Wiesen und Blumen, mit vielerlei Tieren und einem Bächlein – eine ganz wunderschöne Landschaft. Allmählich ist sie mutiger geworden. Da hat sie in der Landschaft eines Tages ein Mädchen getroffen, das ein wenig aussieht wie sie selbst. Aber das Mädchen kann laufen und sogar auf Bäume klettern, es kann auf einem Pferd reiten oder, wenn es will, auf einem Reh, und es kennt viele geheime Stellen, wo sie schöne Dinge finden können, die da verborgen sind: besondere Blumen oder Edelsteine.

Außerdem hat das Mädchen Flügel, und wenn Ruth mit ihm zusammen ist, dann hat auch Ruth Flügel, und dann können sie beide über das schöne Land fliegen oder auch hinauf zu dem Schloss, in dem das andere Mädchen wohnt. Wundert es euch, dass das andere Mädchen auch Ruth heißt? »Die andere Ruth« nennt Ruth sie. Es gibt so etwas. Seht ihr, so hat Ruth allmählich gelernt, durch die Tapetentür des Paten hindurchzugehen, und wenn sie gerade keine Lust hatte, in jenes andere Land zu verreisen, dann hat sie doch gewusst, dass es da ist und sie jederzeit dorthin gehen kann, wenn sie will. Da hat sie sich in ihrem Rollstuhl nicht mehr so allein gefühlt. Wenn es ihr aber schlecht ging – und das kam immer wieder einmal vor –, dann hat sie manchmal gehört, wie die Tür leise von der anderen Seite geöffnet wurde, und dann wusste sie: Jetzt ist »die andere Ruth« zu mir gekommen. Sie brauchte die Augen dafür gar nicht zu öffnen; sie merkte auch so, dass die andere mit ihren großen Flügeln da war, dass sie neben ihrem Bett stand, einfach so, um da zu sein, damit Ruth nicht allein wäre. Dann war das Kind getröstet, und am nächsten Tag ging es im schon wieder viel besser. Meint ihr immer noch, dass eine Tür nicht zu öffnen sei, wenn sie nur mit einem Stift auf eine Wand gemalt ist? Ei, man muss nur lernen, wie man eine solche Tür öffnet, dann geht es schon. Ruth jedenfalls ist froh, dass sie diese Tür hat, durch die sie zur »anderen Ruth« gehen und jene zu ihr kommen kann. Fragt euren Paten, wenn er euch wieder einmal besucht, ob er euch nicht auch eine solche Tür schenken kann und euch lehren, wie man sie öffnet!