von Georg Dreißig
Warum der Schmetterling die Blüten so gern hat
Eine Raupe hatte sich fleißig von einem grünen Blatt der Brennnessel zum nächsten emporgefressen, denn Blätterfressen, meinte sie, sei überhaupt das allerwichtigste im Leben. Jetzt stieg sie wieder ein Stückchen höher und wollte eben mit dem Schmaus beginnen, als sie auf einmal stutzte. Das Blatt, in das sie hatte beißen wollen, war gar nicht grün wie die anderen, sondern weiß.
Da hielt sich die Raupe mit den Hinterbeinen ordentlich am Stängel fest und beugte den Vorderkörper so weit ab, dass sie gut hinaufschauen konnte. Siehe da: Das weiße Blatt war tatsächlich ganz anders als alle, die sie sich bisher zu Gemüt geführt hatte. Es war viel feiner als die übrigen, und – es duftete ganz wundersam. »Gibt es denn so etwas?«, fragte die Raupe überrascht und vergaß vor lauter Staunen das Fressen. »Kann eins auf dieser Welt auf einmal so schön sein?« Manchmal sagen wir, wenn jemand tüchtig über irgendetwas nachdenkt: »Der spinnt.« Wisst ihr, woher das kommt? Es kommt von den Raupen. Wenn die ordentlich nachdenken, dann spinnen sie wirklich, spinnen einen dünnen, aber ganz kräftigen Faden, und je länger sie spinnen, umso mehr hüllen sie sich in diesen Faden ein. So tat es auch unsere Raupe nun. Sie spann und spann und hüllte sich in einen dünnen Faden. Nach einer Weile sah das Gespinst dann aus wie ein kleines Häuschen, allerdings ohne Fenster und Türen. Darin saß die Raupe und dachte immer noch über das, was sie gesehen hatte, nach. Allerdings wurde ihr Nachdenken über das Wunder, dass eine grüne Pflanze eine so wunderbar farbige und duftende Blüte haben kann, allmählich zu einem Traum. Die Raupe träumte, sie sei selbst eine solche farbige Blüte geworden und würde von der Luft leicht umhergeweht. Während die Raupe schlief und träumte, verwandelte sich das Häuschen, in das sie sich eingesponnen hatte: Es sah auf einmal so aus, als hätte jemand auf seine Wände große zusammengelegte
Flügel gezeichnet. Was das wohl wieder zu bedeuten hatte? Und dann kam der Tag, an dem das gesponnene Raupenhäuschen plötzlich einen Knacks bekam und begann, auseinanderzubrechen. Wenn ihr aber meint, nun hätte die Raupe ausgeträumt und käme heraus, um weiter zu fressen, dann irrt ihr euch ganz gewaltig. Aus dem zerbrochenen Raupenhäuschen kam ein Tier mit großen zusammengelegten Flügeln hervorgekrabbelt. Es öffnete die Flügel und ließ sie von der Sonne trocknen, und da sah es just so aus, als hätte sich dort eine große farbige Blüte entfaltet. Als die Flügel getrocknet waren, breitete das Tierlein sie aus und flog ins Sonnenlicht hinein. Wer war da erschienen? Der Schmetterling. Und der mag gar keine grünen Blätter mehr fressen wie damals, als er noch eine Raupe war. Er gaukelt von Blüte zu Blüte, denn er meint, dass auch diese alle Schmetterlinge seien. »Seid gegrüßt, Schwestern«, ruft er den Blüten zu, »kommt und fliegt mit mir in den Sonnenschein hinein. Es ist so ein wunderbar goldener Tag. Da sollte unsereiner nicht angewurzelt an seinem Platz hocken bleiben.« Ei, wie wundert er sich, dass keine der Blüten mit ihm fliegen mag! Ob sie nicht wissen, wie sie ihre schönen Flügel gebrauchen müssen? Immer wieder und wieder umgaukelt der Schmetterling sie darum und zeigt ihnen seinen schönsten Tanz. »Lasst uns in die Sonne fliegen«, ruft er ihnen dabei zu. Lauft nur und schaut ihm zu! Er wird nicht müde, die Blüten zu rufen, mit ihm zu fliegen.
Merkt ihr, wie sehr er sich verändert hat, seit er keine Raupe mehr ist?«