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»… denn Leiden ist Versteck fürs Licht«

von Georg Dreißig

Manchmal hilft ein überraschendes Bild schneller. einen Zusammenhang zu verstehen, als es viele zutreffende Begriffe zu leisten vermögen. So ist es mir mit dem folgenden Gedicht von Nelly Sachs gegangen, als ich neuerlich über das Wesen des Menschen und seinen Anteil an Vergangenem einerseits und Zukünftigem andererseits rätselte. Die Dichterin schreibt:

»Und wickelt aus, als wären‘s Linnentücher, darin Geburt und Tod ist eingehüllt, Buchstabenleib, die Falterpuppe aus grüner, roter, weißer Finsternis, und wickelt wieder ein in Liebesleiden wie Mütter tun; denn Leiden ist Versteck fürs Licht.   Doch während er wie Sommer oder Winter handelt, schwebt schon Ersehntes, sehnsuchtsvoll verwandelt.«11

Gewiss, zunächst hat man Schwierigkeiten, überhaupt zu verstehen, was da zu einem gesagt worden ist. Man muss wieder und wieder verweilen, darf nicht an den einzelnen Wörtern vorbeihuschen, wie wir es gewöhnlich tun, wenn wir uns verständigen. Man muss sich Rechenschaft ablegen darüber, was man verstanden hat und was noch nicht. Versuchen wir das, dann bemerken wir, dass die Dichterin eine Tätigkeit beschreibt, die am »Buchstabenleib« vollzogen wird: Der »Buchstabenleib« wird ausgewickelt, und er wird wieder eingewickelt. Ausgewickelt wird er aus »Linnentüchern, die Geburt und Tod einhüllen«; sie nennt sie auch »grüne, rote, weiße Finsternis«. Eingewickelt wird er in »Liebesleiden«. Für dieses neuerliche Einwickeln wird sogar ein Grund angegeben; es heißt, es geschehe »wie Mütter tun; denn Leiden ist Versteck fürs Licht«. Der »Buchstabenleib« wird aus seinen Verhüllungen ausgewickelt und also anschaubar oder, dem verwendeten Bild entsprechender: Er wird lesbar. Den »Buchstabenleib« – wir suchen ihn im Grunde in allen Wahrnehmungen, die wir machen. Wir geben uns nicht mit dem reinen Sinneseindruck zufrieden, sondern wir wollen, was wir wahrnehmen, auch verstehen, wollen zumindest den Namen kennen dessen, was wir gesehen, gehört oder getastet haben. Wir wollen seine Gesetzmäßigkeiten ergründen, etwas über sein Warum, Woher und Wozu erfahren. Dem Sinnlichen wollen wir seinen Sinn ablesen; das Erscheinende soll uns das in ihm Verborgene enthüllen, wie der Buchstabe es tut: Er ist nicht nur wahrnehmbar, sondern er lässt sich zugleich lesen, d. h. er vermittelt uns mit der Wahrnehmung zugleich seinen Sinn. Als »Buchstabenleib« erscheint uns die sinnliche Welt im Ganzen und jede einzelne Erscheinung in ihr. Als »Buchstabenleib« betrachten wir uns insbesondere als Menschen, indem wir über den Sinn unseres eigenen Daseins rätseln. Wer von uns könnte sich schon mit der Tatsache, einfach Dasein zu haben, zufriedengeben, wenn er mit diesem Dasein nicht noch einen tieferen Sinn verbinden könnte!

Hinblickend auf den Menschen, wie wir ihn wahrnehmen können – am anderen oder an uns selbst –, hinblickend auf unsere eigene Erscheinung als einen  »Buchstabenleib«, werden wir durch das kleine Gedicht von Nelly Sachs angeregt zu bemerken: Der, nach dem du da fragst, den du verstehen willst, der ist verhüllt, und die Hülle verrät dir zunächst gar nicht, ob du auf Lebendiges oder Totes schaust. Um das festzustellen, muss man die Hüllen entfernen, die Hüllen, die da sind: »grüne, rote, weiße Finsternis«. Sinnen wir ein wenig darüber nach, was uns das Wesen des Menschen verhüllt. Im unmittelbaren Wahrnehmen sind es zunächst die Lebensattribute: Alter, Geschlecht, Volkszugehörigkeit u. a. Ich sehe eine ältere Dame, einen kleinen Jungen, einen Greis. Das ewige Menschenwesen ist darin verhüllt. Man kann die Attribute des konkreten Lebens einmal verstehen als die »grüne Finsternis«, die das Menschenwesen mit Lebensäußerungen umhüllt. Eine weitere Hülle ist in den vergangenen 100 Jahren immer wichtiger geworden dadurch, dass sich die Anschauung durchsetzte, der Mensch sei ein höheres Tier. Was im vergangenen Jahrhundert zunächst die vergleichende Anatomie festgestellt hat, das hat in unserem Jahrhundert die Verhaltensforschung zu bekräftigen gesucht, indem sie auch das Tun und Lassen des Menschen zurückgeführt hat auf bestimmte Verhaltensmuster im Tierreich. Der Mensch, der sich innerlich aufgerufen fühlt, sein Verhalten selbst zu bestimmen und zu verantworten, wurde da angebunden an Mechanismen, die über Jahrtausende hinweg eine bestimmte Art und Weise des Betragens begründet haben sollen. Das Freiheitsempfinden mag sich dagegen wehren, sich in unzulässiger Weise eingeengt fühlen. Das Wahrheitsempfinden wird aber beschämt anerkennen müssen, dass vieles von dem, was in der Verhaltensforschung vorgetragen wird, das eigene Verhalten tatsächlich beschreibt. Das Menschliche – nach Art der Tiere bestimmt und festgelegt. Diese Anschauung erkennt den Menschen von Seiten des Tieres, aber in dieser Hülle, in dieser »roten Finsternis«, erleidet das Menschenwesen letztlich den Tod, kann sich nicht frei entfalten. Wir sehen das Tote des Menschen, wenn wir auf das blicken, was ihn mit dem Tier verwandt macht. Ist nicht das Wesen des Menschen aus der Freiheit geboren? Sind wir nicht als Kinder des Himmels in dieses Erdenleben eingetreten, wohl wissend, welche Absicht, welches Ziel wir damit verfolgen? Ist nicht dies unser Adel, dass wir unsere Lebenskraft immer wieder erneuern dürfen aus jenem Hinblicken auf das Ziel? Wer wollte dem Gesagten nicht zustimmen! Dennoch gründet auch diese Aussage zunächst darauf, dass der Mensch verhüllt wahrgenommen wird, jetzt aber in »weißer Finsternis« verhüllt. Wir schauen nicht auf das gegenwärtige Menschenwesen, sondern auf das, was einmal werden will, was einmal die Kraft erlangen will, bewusst von seinem himmlischen Ziel her sein Leben zu führen. Was wir beschrieben haben, ist gar nicht das Menschenwesen selbst, sondern – sein Engel. Wie wir das Tier zurücklassen müssen, um wahrhaft Mensch sein zu können, so müssen wir uns den Engel erst noch zu eigen machen. In der Verhüllung aus »weißer Finsternis« birgt sich das noch Ungeborene des Menschen. So können wir, angeregt durch das Gedicht der Nelly Sachs, bemerken, dass wir das Wesen des Menschen erst verstehen, wenn wir es auswickeln aus seinen ganz unterschiedlich gearteten Verhüllungen. Dann können wir ihn begreifen in seinem gegenwärtigen Sein zwischen Tier und Engel. Wie aber mag es uns gelingen, uns den uns bindenden Kräften, die uns im Tierischen halten wollen, zu entringen und dem Engelwerden entgegenzuwachsen? Nelly Sachs sagt: indem wir wieder eingehüllt werden »in Liebesleiden«. Wir müssen das Wort »Liebesleiden« wohl noch einmal ganz neu verstehen, um ahnen zu können, wovon die Dichterin da spricht. Es dürfte ihr kaum um die Schmerzen einer romantischen Liebesbeziehung gehen, an die wir vielleicht zunächst mit diesem Begriff denken. Vielmehr findet hier eine Engführung von zwei ganz verschiedenen Dingen statt: von Liebe nämlich und von Leid. Liebe, die zugleich Leid ist, Leiden, das zugleich Liebe ist – davon spricht das Gedicht. In Leiden soll der »Buchstabenleib« eingehüllt werden, die ihrer Substanz nach Liebe sind. Und ein derartiges Eingewickelt-Werden soll ihm sogar zum Gedeihen gereichen; es ist ein mütterliches Tun, das so am Menschen vollzogen wird, um ihn seiner Geburt entgegenzuführen. Wir kennen das Leid heute fast nur von seiner unangenehmen, schmerzhaften Seite. Wir vermeiden es, oder wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt, verstecken wir es wenigstens – in Krankenhäusern und Altenheimen. Dort aber bildet sich eine esoterische Gemeinschaft, die die Tiefen des Leids ergründet und dadurch u. U. zu ganz anderen Erfahrungen kommt. Das Zeugnis einer so Erfahrenen sollen uns hier weiterhelfen. Anne-Marie Tausch, Professorin für Psychologie, hatte eben begonnen, ein Forschungsprojekt darüber durchzuführen, ob die Teilnahme an psychologischen Gesprächsgruppen Krebskranken helfen könnte, mit ihrer Krankheit besser fertig zu werden, als sie von ihrem Arzt erfuhr, dass sie selbst an Krebs erkrankt sei.22 Sogleich stellen sich auch bei ihr die allgemein mit dem Krebs verbundenen  Ängste ein. Eine Frage aber, die sie von einer Kollegin gestellt bekommt, eröffnet ihr die Möglichkeit, ihre Krankheit ganz neu wahrzunehmen. Die Frau rät ihr, einmal nicht auf den Krebs zu schauen, sondern zu fragen, »was mir mein Krebs bedeutet, was er mir bringt«. Anne-Marie Tausch bekennt: »Als erstes fiel mir nur ein: Krankheit und Schmerzen.« Aber einige Wochen gehen ins Land, die Frage wird immer wieder bewegt, und siehe da: allmählich stellt sich eine ganze Liste von Einsichten ein, die sie der Krankheit verdankt: z. B. »Kontakt zu meinem kranken Körper.« – „Die Krankheit gibt mir Zeit, darüber nachzudenken, was wichtig und was unwichtig in meinem Leben ist.« – »Schmerzgefühle als etwas Positives akzeptieren.« – »Leichteren Zugang zu kranken Menschen« u. a. Die angeregte Fragestellung eröffnet der Erkrankten ganz neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für die eigene Krankheit, aber auch dank der eigenen Krankheit. Ähnlich ergeht es denen, mit denen Anne-Marie Tausch das Gespräch sucht. Eine Patientin wird mit der folgenden Aussage zitiert: »Diese Krankheit ist mir geschickt worden. Ich kann das jetzt aufrichtig sagen. Sie ist ein liebevolles Zeichen Gottes. Ich wäre nie so aufgerüttelt worden. Ich hätte mir nie Gedanken über den Sinn meines Lebens gemacht und mich hinterfragt: Wie lebe ich eigentlich? Was tue ich? Ich wäre nie darauf gekommen, dass die Liebe wirklich das allerwichtigste ist in unserem Leben…« Die ihr mitgeteilten Erfahrungen anderer Kranker fasst Anne-Marie Tausch so zusammen: »Viele fühlen sich ›aufgerüttelt‹, machen sich auf einen neuen Weg – auf einen Weg, der zu ihrem inneren Lebensraum führt… Manche bleiben ihr Leben lang verbittert, sterben verbittert. Andere gehen aus jeder Krisensituation innerlich heiler hervor, wachsen, füllen ihren inneren Lebensraum und sterben trotz körperlichen Verfalls seelisch heil und gesund. Diese Menschen haben rechtzeitig gespürt, dass sie es selbst sind, die sich verbittert und unzufrieden machen, und dass sie die Chance haben, innerlich zu wachsen und zu reifen.« Denen, die das Leid nicht mehr vermeiden können, die nicht umhinkönnen, es zu erfahren, erschließt sich ein Wahrnehmungsorgan, das ihnen erlaubt, in den Leiden – Liebe zu spüren, die sich ihnen zuwendet. Nun regt das Gedicht an, noch ein letztes Motiv zu besinnen. In den abschließenden Zeilen heißt es, dass »er… handelt«, und dass dadurch ein erst »Ersehntes« schon Dasein gewinnt: »… schwebt schon Ersehntes, sehnsuchtsvoll verwandelt«. Erst hier am Schluss wird deutlich: Es ist nicht nur etwas, das geschieht, es äußert sich darin auch jemand, der handelt. An wen können wir dabei denken? Wer handelt da? Für wen ist der zukünftige Mensch der »Ersehnte«? Wessen Sehnsucht wirkt wandelnd an unserem Wesen? Gewiss fragen wir jetzt nach dem Menschenbruder Christus, nach ihm, der das zukünftige Wesen des Menschen besser kennt als jeder andere. Wer hätte solche Sehnsucht nach ihm wie der, der sogar Leid und Tod auf sich nahm, um die Zukunft des Menschen zu bewahren – und der von daher auch die Bedeutung der Leiden im Leben tiefer bewerten, ja wertschätzen kann, als ein Mensch es vermag.

So kann das kurze Gedicht der Nelly Sachs uns anregen, zu ahnen, wie nah Christus uns in unserem Leben – auch in unserem Leiden – ist. Er selbst ist derjenige, der uns fragen lässt nach unserem gegenwärtigen ewigen Wesen, nach dem, das nicht identisch ist mit den Attributen dieser bestimmten Inkarnation, und der es uns unterscheiden lehrt sowohl vom Tier als auch vom Engel. Und wenn in uns selbst die Sehnsucht nach dem zukünftigen Menschen erwacht und wir in dieser Sehnsucht unser wahres Wesen besonders nahe fühlen – dann mag es seine Sehnsucht sein, die unsere Seele berührt und hellfühlend macht für unsere eigene Zukunft. Ihr leben wir entgegen, eingehüllt in seine Liebe (die allerdings als Leiden erscheinen kann), mit der er uns umgibt »wie Mütter tun«, dass in der Umhüllung solchen »Liebesleidens« unser Lichtwesen heranwachse; »denn Leiden ist Versteck fürs Licht« – für das Licht, das uns selbst zugedacht ist wie auch für das Licht, welches von seinem Wesen in unser Leben hereinstrahlt.

1 Nelly Sachs, »Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs«, Frankfurt am Main 1961

2 Anne-Marie Tausch, »Gespräche gegen die Angst. Krankheit – ein Weg zum Leben«, Reinbek bei Hamburg 1981