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Geschichte für den dritten Ostersonntag

von Georg Dreißig

Wie weit genau es bis zum Himmel ist

»Nicht wahr, Großmutter, der Himmel ist ganz weit weg«, sagte Leander und legte seine kleine Stirn in ernste Falten.

»Warum meinst du das?«, fragte die Großmutter.

»Und dann ist der liebe Gott auch ganz weit weg von uns«, fuhr Leander unbeirrt von ihrer Frage fort, »denn der wohnt ja im Himmel.«

»Der wohnt im Himmel«, bestätigte ihm die Großmutter.

Das Kind überlegte eine Weile. Dann fragte es: »Du, Großmutter, wie viele Kilometer sind es bis zum Himmel?« Da schüttelte die Großmutter den Kopf und sagte: »Nein, bis dahin sind es keine Kilometer. Der Himmel ist viel näher.«

»Wie nahe denn?«

Leander wollte es gern ganz genau wissen.

»Ich will dir etwas erzählen«, lächelte die Großmutter, »dann kannst du es selbst ganz genau herausfinden.

Damals, als der liebe Gott die Blumen machte, fragte er eine jede von ihnen, was sie denn gern hätte: schöne farbige Blüten, bezaubernden Duft, einen mächtigen Stamm – es gab vielerlei, was sie sich auswählen konnten.

So kam er auch zu einem Blümlein, das war so scheu, dass es fast nicht wagte, dem lieben Gott auf seine Frage zu antworten, und außerdem war es sich nicht sicher, ob es nicht zuviel begehrte.

Endlich aber flüsterte es leise: ›Es ist mir egal, wie ich auf der Erde aussehe. Aber ich wäre so froh, wenn sich meine Blüten im Himmel öffnen dürften.‹

Beschämt schaute es zu Boden. Der liebe Gott aber nickte nur freundlich. Dann flüsterte er mit den Engeln, die ihm halfen, die Blumen anzuziehen.

Da machten sich die Engel eifrig ans Werk. Weil die Blüte des Blümleins sich im Himmel öffnen sollte, beschlossen sie, ihr das Aussehen eines Sternes zu geben. Aus dem weißen Stoff, aus dem vielleicht auch ihre eigenen Gewänder geschneidert werden, schnitten sie zahllose kleine Blütenblätter.

Doch sie vergaßen in ihrem Eifer zu verabreden, aus wie vielen Blütenblättern die Sternenblüte gebildet werden sollte. So nahm der eine Engel fünf, der andere sechs, ein dritter gar sieben Blätter dafür. In die Mitte taten sie eine winzig kleine goldene Sonne. Schließlich kamen noch der Stängel und feine grüne Blätter dazu. Dann war das Blümlein fertig und gleich noch viele Geschwister dazu.

Der liebe Gott aber segnete sie und machte, dass sie in großer Schar auf dem Waldboden wuchsen, denn von solchen Blümlein, an denen die Menschen ablesen können, wie weit genau es bis zum Himmel ist – nämlich so weit wie von der Wurzel des Blümleins bis zu seiner Blüte –, von solchen Blumen konnte es gar nicht genug geben.«

Als die Großmutter ihre Erzählung beendet hatte, nahm sie Leander bei der Hand und sagte: »So, und nun wollen wir in den Wald gehen und nach dem Blümlein schauen.«

Und welche Blume zeigte die Großmutter dem Jungen? Sie zeigte ihm die Anemone, das Buschwindröschen.

»Aber die hat ja einen ganz kurzen Stängel«, wunderte sich Leander, »kaum länger als mein Finger.«

Die Großmutter nickte ernst. »So ist es, mein Kind. So nah kommt der Himmel zu uns, bis hinunter auf unsere liebe Erde. Hättest du das wohl gedacht?«

Das Bild von Lisa zur Geschichte vom letzten Sonntag: Vom Kind, das ging, Hilfe zu holen